Archiv der Kategorie: Fernweh

… einfach losfahren

Seit Tagen kreisen meine Gedanken um die Themen Roadtrip und Autofahren. Ausgelöst durch zwei Bücher, welche völlig verschiedene Welten beschreiben. In der einen Welt fahren Frauen wie Betty und Martha in Lucy Frickes Roman Töchter rauchend und mit wehendem Haar in einem alten Golf völlig unproblematisch durch Europa. In der anderen Welt haben Frauen wie Manal aus Losfahren nicht mal die Erlaubnis, sich ans Steuer zu setzen. Auch wenn es dazu keinen einzigen Paragrafen gibt, gilt dies in Saudi-Arabien als sittenwidrig.
Stop! Es galt als sittenwidrig! Denn in der Nacht vom 23. zum 24.06.2018 wurde das Fahrverbot für Frauen aufgehoben. Der erste wichtige Schritt ist getan. Nun müssen die Frauen unendlich viel Mut beweisen, ihren Führerschein machen und losfahren … so wie Manal al-Sharif es in ihrem autobiographischen Roman beschreibt.  Weiterlesen

Das passt in jeden Koffer – Bücher für den Sommer

Als Buchhändlerin habe ich immer wieder die große Chance, aktiv mit daran beteiligt zu sein, ein Debüt durchzusetzen. Das ist extrem spannend und unglaublich schön. Ein unbändiges Glücksgefühl empfinde ich jedesmal neu, wenn ich eins dieser Bücher dann Monate später als Taschenbuch in der Hand halte und es erneut mit Leidenschaft empfehlen kann. Als Urlaubslektüre beispielsweise, weil ein Taschenbuch noch immer in jeden Koffer passt. Geschichten voll sprachlicher Schönheit und außergewöhnlichen Inhalts erzählen diese drei wundervollen Autorinnen:

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Haruki Murakami. Sputnik Sweetheart

murakami_sputnik_sweetheartSo schön es ist, in eine unbekannte Geschichte einzutauchen, so aufregend kann es sein, eine bereits gelesene erneut aufzuschlagen. Es ist ja auch eine Reise in das lesende Ich meiner Vergangenheit. Sputnik Sweetheart habe ich 2002 gelesen und es war einer meiner ersten Romane von Haruki Murakami. Ein Riesenrad spielte eine zentrale Rolle und eine Liebe zwischen zwei Frauen. Mehr als diese vagen Erinnerungen habe ich nicht, doch unvergessen ist das Glücksgefühl, das ich vor 15 Jahren schon verspürte. Und es stellt sich sofort wieder ein:

Sumire besaß so wenig Möbel, dass die Wohnung kalt und leblos aussah. An den Fenstern hingen keine Vorhänge, und auf dem Boden stapelten sich Bücher, die keinen Platz in den Regalen gefunden hatten, wie intellektuelle Flüchtlinge (S. 76/77).

Genau! Das war es! Diese kleine verrückte Sumire, die ich von Anfang an so mochte, ich schließe sie sofort erneut und noch ein bisschen  heftiger in mein Herz. Freue mich so sehr über dieses „Wiedersehen“.  Weiterlesen

Juan Gómez Bárcena. Der Himmel von Lima

barcena_himmel_von_lima_secessionCarlos und José sind zwei Studenten aus wohlhabenden Familien im Lima des Jahres 1904.
Einer von vielen Gründen, warum man dieses Buch unbedingt lesen sollte, sind Zeit und Ort der Handlung, denn der junge spanische Autor Bárcena entführt uns an den Anfang des vorigen Jahrhunderts, als Briefe noch mit Tinte und Feder geschrieben, versiegelt und per Schiff zwischen den Kontinenten hin und her geschickt wurden. Es ist eine Zeit, in der alles ruhiger fließt. Die heutige Eile und die Hochgeschwindigkeit der Übermittlung von Gedanken existieren einfach nicht. Eine wundervolle Art der Langsamkeit durchzieht die rasant erzählte Geschichte, lässt vergangene Bilder von Postkutschen und riesigen Ozeandampfern vor dem inneren Auge erstehen. Klug, witzig, sprachlich außergewöhnlich, passt sich die Story dem langsamen Tempo des frühen 20. Jahrhunderts an und ist doch an keiner Stelle langatmig. Man hat das Gefühl, zugleich in einem Klassiker von Flaubert oder Tolstoi und ganz im Hier und Jetzt zu sein.  Weiterlesen

Rabih Alameddine. Eine überflüssige Frau

alameddine_eine_überflüssige_frauBleibt von jedem gelesenen Roman vielleicht einfach nur ein Bild im Kopf, eine einzelne Szene? Was beispielsweise wird dem Leser dieser Lektüre geblieben sein? Fragen, die sich die etwa 70-jährige Aaliya auf Seite 200 stellt.
Nachdenklich schlage ich das Buch zu und weiß es sofort. Ich werde immer an ein kleines Zimmer in Beirut denken. Vor dem Fenster flackert eine Straßenlaterne (je nach Stromversorgung stark oder schwach). Ich werde den marineblauen Chenille-Sessel sehen, den Gebetsteppich mit dem nach Mekka zeigenden Kompass als Bettvorleger und Kisten voll mit handschriftlichen Übersetzungen der Romane von Tolstoi, Pessoa, Kundera und Nabokov ins Arabische. Aaliyas Wohnung ist mir während des Lesens so vertraut geworden, dass ich für eine Verfilmung das perfekte Setting herrichten könnte. Ach, ja! Inclusive des verstaubten Spiegels. Denn so blitzblank die Wohnung, so halbblind ist der Spiegel. Aaliya ist in einem Alter, da sie sich selbst nicht mehr anschauen mag.

Ihre Leidenschaft ist das Lesen. Überall in ihrer Wohnung stehen Büchertürme herum. Begleitet vom Duft des Jasmins spazieren wir mit ihr durch die Weltliteratur und träumen uns weit weg aus dem Libanon: Meine Bücher verraten mir, wie das Leben in einem zuverlässigen Land ist … Im Vergleich mit dem Mittleren Osten ist die Welt von Burroughs und Garcia Marquez viel vorhersehbarer. Dickens‘ Londoner sind vertrauenswürdiger als die Libanesen (S. 84/85). Weiterlesen

Etgar Keret. Die sieben guten Jahre

keret_die_sieben_guten_jahreDer israelische Autor Etgar Keret mag es, Geschichten zu erzählen. Seinen Nachbarn und Freunden erzählt er gern phantasievoll ausgedachte Sachen. Sitzt er aber im Flugzeug oder in der Bahn neben einem Fremden, so erzählt er gern Stories aus seinem Leben, von seinen Eltern, seiner Frau Shira oder dem Sohn Lev. Solche wahren Geschichten hat er dann irgendwann aufgeschrieben. Sie sind bereits in viele Sprachen übersetzt. Es gibt sie in Englisch, es gibt sie sogar in Farsi (Die Welt). Und nun endlich auch auf Deutsch, dank seines Freundes Daniel Kehlmann. Weil diese kleinen Stories aber so persönlich sind, wird es sie nicht auf Hebräisch geben, wird das Buch nicht in Israel veröffentlicht. Für Freunde und Nachbarn hat er halt nur fiktive Geschichten. Für uns „Reisende“ sind die wahren Geschichten:

In diesem Buch teilen Sie ein Eisenbahnabteil mit mir. Wenn Sie zur letzten Seite kommen, steige ich aus, und wir sehen uns vielleicht nie wieder. Aber ich hoffe, dass etwas von der siebenjährigen Reise, die mit der Geburt meines Sohnes beginnt und mit dem Tod meines Vaters endet, auch Sie berührt (S. 222). Ganz klar – Etgar Keret hat mich berührt, und wie! Doch in einer anderen Sache hat er sich geirrt. Denn nachdem er mir alles aus seinem wahren Leben erzählt und das Eisenbahnabteil verlassen hat, haben wir uns gestern Abend wiedergesehen …  Weiterlesen

Rasha Khayat. Weil wir längst woanders sind

kayat_weil_wir_längst_woanders_sindLayla und Basil sind zwei untrennbar und sehr eng miteinander verbundene Geschwister. Viele Jahre gemeinsamen Lebens mit Alex in einer Hamburger WG lösen eine intensiv schöne Kindheit ab. Doch dann ist Layla plötzlich weg. Basil ist schockiert und wütend, als er erfährt, dass seine Schwester eine traditionelle Ehe in Jeddah in Saudi-Arabien eingehen will. Dort, wo beide aufgewachsen sind. Wo sie Freunde hatten, wo sie zur Schule gegangen sind, wo sie als Kinder glücklich waren.

Fremd fühlten sich Layla und Basil immer bei den Großeltern in Deutschland, wo  sie regelmäßig die Sommerferien verbracht haben. Eines Tages geht es nach den Schulferien nicht wie gewohnt zurück in die arabische Heimat. Beide Kinder sind völlig ahnungslos, als ihre Eltern Barbara und Tarek sich für ein Leben in Deutschland entscheiden. Basil versucht sich später zu erinnern, ob er es irgendwie hätte ahnen können: Weiterlesen

Benedict Wells. Becks letzter Sommer

wells_becks_letzter_sommerAls er bei Neapel vor einem Lokal parkte, hatte Beck acht Stunden Fahrt und sein ganzes Leben hinter sich. Beim Aussteigen fiel ihm auf, dass sein graues Cordjackett zerknittert war.

Bereits mit diesen ersten zwei Sätzen hat Benedict Wells mich komplett in seinen Roman hineingezogen. Ohne vorher den Klappentext zu lesen, weiß ich bereits – das ist mein Buch. Im nächsten Kapitel geht es zurück in die 90er Jahre. Beck ist Lehrer für Deutsch und Musik an einem Gymnasium in München. Er hasst seinen Beruf, er hasst das Gymnasium (Beck hatte hier sein Abitur gemacht, sein Vater war Lehrer an diesem Gymnasium!) und er hasst seinen Kollegen Norbert Berchthold.

Was er nicht hasst: gute Musik, seinen Freund Charlie, seinen 17jährigen Schüler Rauli aus Litauen und die 10 Jahre jüngere Lara, die gerne in Clubs geht, um zu tanzen. Weiterlesen

Ralf Rothmann. Hitze

Ralf_Rothmann_HitzeEben lese ich die sehr positive Rezension zum neuen Roman von Ralf Rothmann bei pop-polit und will nun sofort „Im Frühling sterben“ lesen. Rothmann ist auch für mich einer der ganz großen Autoren. Seine Sprache ist exzellent. Und die Storys, welche er erzählt, überraschen mich immer neu. So auch „Hitze“, das zu großen Teilen im Berliner Bezirk Kreuzberg einige Jahre nach der Wende spielt. Eine neue Empfehlung in meiner Reihe „Wiedergelesen in 8 Sätzen“. Und passt in jeden Koffer:

Blickt man die rußige Fassade hinauf, sind die Tauben nur mit Mühe vom Stuck zu unterscheiden, von dem Lorbeer und den Lilien aus Stein, an die sich geschmiegt haben … Kalter, nach Braunkohle riechender Wind treibt Graupel über den Asphalt und erzeugt ein Rascheln in den Bäumen, alten Eichen, riesigen Kastanien … (S. 11).

Es ist Herbst, die Stimmung des Romans passt sich der Tristesse dieser ersten kühlen Tage perfekt an. Weiterlesen

Carl Nixon. Rocking Horse Road – Fernweh NEUSEELAND

Im vorigen Jahr hatte ich mein Projekt „Fernweh“ gestartet, in welchem ich an Taschenbuch-Romane erinnern möchte, die sich lohnen, wieder gelesen zu werden. Sie führen an ferne Orte und passen in jeden Koffer. Und weil es in dieser Story auch täglich mehr als 30 Grad hat, passt kaum ein Buch besser zu den überraschend hohen Juli-Temperaturen da draußen, als Rocking Horse Road. Und vielleicht kommt ja sogar noch Regen …

nixon_rocking_horse_TB… Neuseeland. The Spit ist ein kleiner spießiger Ort mit genau definierten Grenzen der „Schicklichkeit“. Bereits mit den ersten, atmosphärisch und packend erzählten, Sätzen hat Nixon mich: Es war Peter Marshall, der Lucys nackte Leiche am Strand fand, nicht weit vom Ende der Rocking Horse Road entfernt. Auch wenn seit diesem Morgen fast drei Jahrzehnte vergangen sind und ein Jahrtausend geendet hat, können wir noch immer ganz präzise sagen, wo Lucy gelegen hat.

In jenem Dezember 1980 beginnen die von Verzweiflung und Beklommenheit gepackten 15jährigen Jungs, den Mörder von Lucy zu suchen. Sie sammeln jede Menge Material, wachen nachts ständig auf, um erneut die Zeitungsartikel zu lesen und haben schwarze Ränder unter den Augen. Sie sind übernervös und wirken wie Gespenster. Doch alles ohne Erfolg. Weiterlesen