Schlagwort-Archive: Israel

Kevin Kuhn. Liv

kuhn_livDie letzten 100 Seiten gelesen. Fast ohne Pause. Die Finger eiskalt. Der Herzschlag viel zu schnell. Ein entzündetes Gefühl in den Augen. Was würde Livs elektronischer Pulsmesser jetzt sagen?
Atmen. Wasser trinken!
Ich besitze eine solche Smartwatch, wie Liv sie zeitweise trägt, nicht. Hauchdünn und biegsam legt sie sich um das Handgelenk wie eine zweite Haut. So ein Ding würde mir Angst machen, überwacht es doch alles, was man tut und fühlt – ähnlich dem implantierten Chip in Juli Zehs Roman Corpus Delicti. Schließlich weiß ich auch ohne eine solche Smartwatch, dass ich jetzt erstmal einen super starken Kaffee brauche!

Ein verrückt schöner Trip durch die Zeit und über mehrere Kontinente liegt hinter mir. Bin mit Liv, ihrem Smartphone und Tausenden von Followern einmal rund um den Erdball gereist. Stationen dieses Trips waren Israel, Mexiko, die USA, Neuseeland und Berlin. Wir waren in einer Geisterstadt in der amerikanischen Salzwüste und sind da fast verdurstet! Wir waren mit dem kleinen Hund_Fufu auf einer Luxusjacht im Pazifik, wo wir beinahe von einer riesigen Sturmfront verschlungen wurden. Wir waren im Tempelhofer Feld in Berlin.  Weiterlesen

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Das passt in jeden Koffer – Bücher für den Sommer

Als Buchhändlerin habe ich immer wieder die große Chance, aktiv mit daran beteiligt zu sein, ein Debüt durchzusetzen. Das ist extrem spannend und unglaublich schön. Ein unbändiges Glücksgefühl empfinde ich jedesmal neu, wenn ich eins dieser Bücher dann Monate später als Taschenbuch in der Hand halte und es erneut mit Leidenschaft empfehlen kann. Als Urlaubslektüre beispielsweise, weil ein Taschenbuch noch immer in jeden Koffer passt. Geschichten voll sprachlicher Schönheit und außergewöhnlichen Inhalts erzählen diese drei wundervollen Autorinnen:

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Rabih Alameddine. Eine überflüssige Frau

alameddine_eine_überflüssige_frauBleibt von jedem gelesenen Roman vielleicht einfach nur ein Bild im Kopf, eine einzelne Szene? Was beispielsweise wird dem Leser dieser Lektüre geblieben sein? Fragen, die sich die etwa 70-jährige Aaliya auf Seite 200 stellt.
Nachdenklich schlage ich das Buch zu und weiß es sofort. Ich werde immer an ein kleines Zimmer in Beirut denken. Vor dem Fenster flackert eine Straßenlaterne (je nach Stromversorgung stark oder schwach). Ich werde den marineblauen Chenille-Sessel sehen, den Gebetsteppich mit dem nach Mekka zeigenden Kompass als Bettvorleger und Kisten voll mit handschriftlichen Übersetzungen der Romane von Tolstoi, Pessoa, Kundera und Nabokov ins Arabische. Aaliyas Wohnung ist mir während des Lesens so vertraut geworden, dass ich für eine Verfilmung das perfekte Setting herrichten könnte. Ach, ja! Inclusive des verstaubten Spiegels. Denn so blitzblank die Wohnung, so halbblind ist der Spiegel. Aaliya ist in einem Alter, da sie sich selbst nicht mehr anschauen mag.

Ihre Leidenschaft ist das Lesen. Überall in ihrer Wohnung stehen Büchertürme herum. Begleitet vom Duft des Jasmins spazieren wir mit ihr durch die Weltliteratur und träumen uns weit weg aus dem Libanon: Meine Bücher verraten mir, wie das Leben in einem zuverlässigen Land ist … Im Vergleich mit dem Mittleren Osten ist die Welt von Burroughs und Garcia Marquez viel vorhersehbarer. Dickens‘ Londoner sind vertrauenswürdiger als die Libanesen (S. 84/85). Weiterlesen

Etgar Keret. Die sieben guten Jahre

keret_die_sieben_guten_jahreDer israelische Autor Etgar Keret mag es, Geschichten zu erzählen. Seinen Nachbarn und Freunden erzählt er gern phantasievoll ausgedachte Sachen. Sitzt er aber im Flugzeug oder in der Bahn neben einem Fremden, so erzählt er gern Stories aus seinem Leben, von seinen Eltern, seiner Frau Shira oder dem Sohn Lev. Solche wahren Geschichten hat er dann irgendwann aufgeschrieben. Sie sind bereits in viele Sprachen übersetzt. Es gibt sie in Englisch, es gibt sie sogar in Farsi (Die Welt). Und nun endlich auch auf Deutsch, dank seines Freundes Daniel Kehlmann. Weil diese kleinen Stories aber so persönlich sind, wird es sie nicht auf Hebräisch geben, wird das Buch nicht in Israel veröffentlicht. Für Freunde und Nachbarn hat er halt nur fiktive Geschichten. Für uns „Reisende“ sind die wahren Geschichten:

In diesem Buch teilen Sie ein Eisenbahnabteil mit mir. Wenn Sie zur letzten Seite kommen, steige ich aus, und wir sehen uns vielleicht nie wieder. Aber ich hoffe, dass etwas von der siebenjährigen Reise, die mit der Geburt meines Sohnes beginnt und mit dem Tod meines Vaters endet, auch Sie berührt (S. 222). Ganz klar – Etgar Keret hat mich berührt, und wie! Doch in einer anderen Sache hat er sich geirrt. Denn nachdem er mir alles aus seinem wahren Leben erzählt und das Eisenbahnabteil verlassen hat, haben wir uns gestern Abend wiedergesehen …  Weiterlesen

Eve Harris. Die Hochzeit der Chani Kaufman

Harris_Chani_KaufmanChani Kaufman ist blaß, dunkelhaarig, schlank und äußerst klug. Sie lebt im heutigen London und ist 19 Jahre alt, als sie heiratet. Die Ehe mit Baruch – so hofft sie – wird sie aus der bedrückenden familiären Enge im Haus ihrer Eltern führen. Neugierig lese ich die ersten Sätze dieser mir unbekannten Autorin, bin sofort gebannt und gerate immer tiefer hinein in diese mutige und klug erzählte Geschichte, die ich schließlich bis zum letzten Satz atemlos verschlinge.

Reglos stand die Braut da, unter Lagen kratziger Petticoats wie zur Salzsäule erstarrt. Schweiß lief ihr den Rücken hinunter … Jetzt war es soweit. Dies war ihr Tag. Der Tag, an dem ihr Leben endlich begann. Sie war neunzehn und hatte noch nie die Hand eines Jungen gehalten (S. 7).

Doch auch die Mehrzahl der Jungen in dieser jüdisch-orthodoxen Gemeinde Londons ist erschreckend unerfahren. Diese Jungen wissen NICHTS! Mit 20 Jahren stolpern sie in eine Ehe, die meist arrangiert wird, und wissen nichts über Hormone, über Sex, über Frauen.  Weiterlesen

Mirna Funk. Winternähe

funk_winternäheDie Titel der Longlist rufen und wollen gelesen und besprochen werden, doch mir gehen die Gespräche mit Lola Wolf immer noch im Kopf herum. Die letzten Seiten von „Winternähe“ sind längst gelesen und doch fällt es mir unsagbar schwer, die Geschichte los zu lassen, mich von Lola zu verabschieden. Lange ist mir keine Romanfigur so nahe gekommen, wie sie.

Etwa 35 Jahre alt, lebt Lola ein unstetes Leben in Berlin, bis sie eines Tages nach Israel reist. Denn hier lebt Shlomo. Ein Mann, der Lola viel bedeutet. Außerdem ist ihr die Stadt Berlin zu kalt, zu glatt, zu eben. Tel Aviv ist bunt, verrückt und spontan. Weiterlesen

Amos Oz. Judas

amos_oz_judasWinter 1959/60. Ein Haus in der Rav-Albas-Gasse in Jerusalem. Ich bin weit weg und tauche erst nach 332 Seiten Lektüre wieder auf. Zurück in der realen Welt. Zurück in Berlin. Wieder da und doch nicht hier. Denn „Judas“ ist kein Roman, den man zuschlägt und vergisst. Ich rede, atme, lache und leide weiter mit den Figuren von Amos Oz. Sein perfekter kleiner Kosmos ist mir so nah geworden in den Tagen des Lesens. Wie in einem kleinen Kammerstück spielt sich hier fast alles ab. In jenem Haus in der Rav-Albas-Gasse …

… wieder höre ich Dielen knarren, sehe die kleine Küche. Ich sehe den Studenten Schmuel Asch, wie er aus seiner Dachkammer herabsteigt, den Bart frisch gepudert. Mit seinen wild gewachsenen Locken unter der Schapka und im ewigen Dufflecoat, schmiert er sich sein tägliches Marmeladenbrot. Ich bewundere die 45jährige Witwe Atalja Abrabanel. Unnahbar und wunderschön mit ihren braunen Augen und dem sinnlichen Glitzern darin. Sie behauptet von sich selbst, kein Herz zu haben. Nimmt sich einfach, was sie braucht.  Weiterlesen

Steven Uhly. Königreich der Dämmerung

Steven Uhly. Königreich 005Vor ein paar Tagen stand im Buchladen überraschend Steven Uhly vor mir und ich hatte die wundervolle Chance, mit ihm über seinen neuen Roman zu plaudern sowie mir das Buch  signieren zu lassen. Drei seiner Romane wurden bisher im Secession Verlag Berlin Zürich veröffentlicht. „Königreich der Dämmerung“ war einer meiner Favoriten für die Longlist des deutschen Buchpreises 2014 –

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Assaf Gavron. Ein schönes Attentat – Fernweh ISRAEL

gavron, assafDie Radio-Nachrichten über Israel und den Gaza-Streifen haben mich dazu bewegt, einen geistigen Trip in den Nahen Osten zu machen. Es fällt so schwer, zu verstehen, was dort täglich passiert.

Eine wirklich große Einsicht konnte Assaf Gavron mir mit seinem im Jahr 2008 erschienen Roman „Ein schönes Attentat“ vermitteln. 1968 geboren, lebt Gavron heute in Tel Aviv. Er ist Autor und Songwriter für eine indiepunk-Band. Er hat außerdem an der Entwicklung des Video-Spiels PeaceMaker mitgewirkt, dessen Inhalt das Verständnis des Nahost-Konfliktes und eine friedliche Lösung für beide Seiten ist. Ich hatte vor einigen Jahren das große Glück, Assaf Gavron bei einer Lesung zu begegnen. Seine Meinung 2008 zur Krise in Nahost war, dass es eine Chance für die friedliche Lösung des Konfliktes gibt.

Warum er so fest daran glaubt, erzählt er in „Ein schönes Attentat“. Mit sehr viel Verständnis und Einfühlungsvermögen in seine Figuren Eitan und Fahmi, deren Verhalten er nie bewertet oder verurteilt….

gavron, attentat cover… Eitan Einoch, ein junger Israeli, hat drei Attentate überlebt – war es Zufall oder einfach Glück? Eitan wird zum gefeierten Superstar in den Medien. Mit dem Ruhm kann er schwer umgehen, mußte er doch erleben, wie geliebte Menschen – eben noch an seiner Seite – in Sekundenbruchteilen in den Tod gerissen wurden. Sein altes Leben entgleitet ihm mehr und mehr, bis er eines Tages Fahmi im Krankenhaus besucht.

Fahmi, ein junger palästinensicher Selbstmordattentäter, liegt nach einem Anschlag im Koma. Als Leser bin ich in seinem Kopf, lebe mit ihm seine Erinnerungen und entdecke dabei einen zutiefst in seiner Seele verletzten kleinen Jungen. Aufgewachsen im Gaza-Streifen, ohne jede Chance, wollte Fahmi so gern ein ganz normales Leben haben: einen Job, eine Freundin.

Diese rasant erzählte, sehr lesenswerte und zutiefst menschliche Story ist für mich eine der Besten, die es momentan zum Thema Nahostkonflikt gibt.

schönes attentat, rose

Assaf Gavron. Ein schönes Attentat. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. Luchterhand München 2008. 350 Seiten. 19.95 / btb taschenbuch 2010. 350 Seiten. 9,99 €

 

 

Daniella Carmi. Lucy im Himmel. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer

Carmi, Lucy im HimmelEin ganz normaler Sonntag im Februar und ich stelle mir vor, ich hätte „Lucy im Himmel“ nicht gelesen. Aus Unachtsamkeit, aus Oberflächlichkeit, aus was für Gründen auch immer.

Was wäre mir da entgangen! Doch allein, dass es in Israel spielt, hätte mich neugierig machen müssen (ich liebe „exotische“ Orte).  Auch hätte mich neugierig machen müssen, dass Carmi für diesen Roman einen hebräischen Literaturpreis erhalten hat (Preise erzeugen bei mir immer Respekt) und dass ihre Übersetzerin Anne Birkenhauer u.a. die Romane von Aharon Appelfeld und David Grossman (die ich beide sehr schätze) übersetzt hat.

All dies ist leider nicht passiert, doch dann las ich vor einigen Tagen glücklicherweise (!!) Maras vielversprechende Rezension auf Buzzaldrins Bücher. Und es machte KLICK.

Ein schmales Buch liegt nun vor mir, darin eine Geschichte, wie sie überall passieren könnte. Doch Carmi hat daraus Literatur gemacht: Ein kinderloses Ehepaar in Israel (sie Christin, er Moslem) will ein Baby adoptieren und bekommt einen 13jährigen Jungen als Pflegekind. Kein süßes knuddeliges Baby. Nein. Einen schlaksigen Teenager, der noch dazu nicht spricht. Auch über seine Herkunft erfahren Nadja und Salim Yassin nichts. Erst viel später erfährt Nadja, dass Netanel auf Wunsch des leiblichen Vaters (orthodoxer Jude) in ihrem arabischen Dorf vor seiner nichtreligiösen Mutter geschützt werden soll. Als Pflegeeltern stehen Nadja und Salim unter strenger Beobachtung und bekommen zusätzliche Verpflichtungen: der Junge hat die Kippa zu tragen, den Talmud zu lesen und den Sabbat einzuhalten. Gleichzeitig aber gehen bei Nadja und Salim geheime Drohungen ein, das Kind frei von jeder Religion zu erziehen.

Man ahnt es bereits – auf den Schultern des schmächtigen Netanel liegt eine zentnerschwere Last. Um sein Leben zu ertragen, wählt er das Schweigen. Und die Musik! Die Songs der Beatles und der Rolling Stones summend, sitzt Netanel im Feigenbaum und träumt sich weit fort –

Meine ganze Bewunderung in diesem Roman gilt Nadja. Wie sie mit all dem umgeht: dem stummen Jungen, dem schweigenden Ehemann, der Frage der richtigen Religion für Netanel (oder besser gar keine?) und dazu einem Job im sozialen Bereich. Sie schafft das mit Humor, mit unendlich viel Geduld und noch mehr Herzenswärme. Als sie erkennt, wie bedeutend für Netanel die Musik ist, fängt sie an, ihm Kassetten auf einem alten Gerät vorzuspielen. Sie wird seine „Lucy in the sky with diamonds“. Und dann der Moment, als Netanel das erste Mal spricht: „Nadja soll Marshmallow-Pie backen. Punktfertig.“ (S. 22)

Es ist wirklich herzzerreißend, wie Nadja dann ganz pragmatisch sofort loszieht, um diese amerikanischste aller Süßigkeiten aufzutreiben. Und wie sie endlich Erfolg hat. Ohne große Euphorie steht sie da in dem kleinen Laden, wo ein trauriger Verkäufer ihr die Beutel mit der rosa-weißen Süßigkeit reicht. Und lakonisch bemerkt sie: „Ich wusste nicht, ob ich einen oder zwei Beutel kaufen sollte. Da kaufte ich drei.“ (S. 25)

Es fiel mir wirklich schwer, dieses Buch zu beenden. Die Story um Nadja, Salim und Netanel ist viel zu schnell vorbei. Voll spannender Momente, dramatischer Gefühle und erfrischendem Humor, dabei herrlich unkonventionell. Besser als 100 Erziehungsratgeber. Man kann sich nur wünschen, dass Daniella Carmi, noch mehr solcher Bücher schreibt!

Daniella Carmi. Lucy im Himmel. Berlin Verlag in der Piper GmbH. Berlin 2013. 143 Seiten