Ein ganz normaler Sonntag im Februar und ich stelle mir vor, ich hätte „Lucy im Himmel“ nicht gelesen. Aus Unachtsamkeit, aus Oberflächlichkeit, aus was für Gründen auch immer.
Was wäre mir da entgangen! Doch allein, dass es in Israel spielt, hätte mich neugierig machen müssen (ich liebe „exotische“ Orte). Auch hätte mich neugierig machen müssen, dass Carmi für diesen Roman einen hebräischen Literaturpreis erhalten hat (Preise erzeugen bei mir immer Respekt) und dass ihre Übersetzerin Anne Birkenhauer u.a. die Romane von Aharon Appelfeld und David Grossman (die ich beide sehr schätze) übersetzt hat.
All dies ist leider nicht passiert, doch dann las ich vor einigen Tagen glücklicherweise (!!) Maras vielversprechende Rezension auf Buzzaldrins Bücher. Und es machte KLICK.
Ein schmales Buch liegt nun vor mir, darin eine Geschichte, wie sie überall passieren könnte. Doch Carmi hat daraus Literatur gemacht: Ein kinderloses Ehepaar in Israel (sie Christin, er Moslem) will ein Baby adoptieren und bekommt einen 13jährigen Jungen als Pflegekind. Kein süßes knuddeliges Baby. Nein. Einen schlaksigen Teenager, der noch dazu nicht spricht. Auch über seine Herkunft erfahren Nadja und Salim Yassin nichts. Erst viel später erfährt Nadja, dass Netanel auf Wunsch des leiblichen Vaters (orthodoxer Jude) in ihrem arabischen Dorf vor seiner nichtreligiösen Mutter geschützt werden soll. Als Pflegeeltern stehen Nadja und Salim unter strenger Beobachtung und bekommen zusätzliche Verpflichtungen: der Junge hat die Kippa zu tragen, den Talmud zu lesen und den Sabbat einzuhalten. Gleichzeitig aber gehen bei Nadja und Salim geheime Drohungen ein, das Kind frei von jeder Religion zu erziehen.
Man ahnt es bereits – auf den Schultern des schmächtigen Netanel liegt eine zentnerschwere Last. Um sein Leben zu ertragen, wählt er das Schweigen. Und die Musik! Die Songs der Beatles und der Rolling Stones summend, sitzt Netanel im Feigenbaum und träumt sich weit fort –
Meine ganze Bewunderung in diesem Roman gilt Nadja. Wie sie mit all dem umgeht: dem stummen Jungen, dem schweigenden Ehemann, der Frage der richtigen Religion für Netanel (oder besser gar keine?) und dazu einem Job im sozialen Bereich. Sie schafft das mit Humor, mit unendlich viel Geduld und noch mehr Herzenswärme. Als sie erkennt, wie bedeutend für Netanel die Musik ist, fängt sie an, ihm Kassetten auf einem alten Gerät vorzuspielen. Sie wird seine „Lucy in the sky with diamonds“. Und dann der Moment, als Netanel das erste Mal spricht: „Nadja soll Marshmallow-Pie backen. Punktfertig.“ (S. 22)
Es ist wirklich herzzerreißend, wie Nadja dann ganz pragmatisch sofort loszieht, um diese amerikanischste aller Süßigkeiten aufzutreiben. Und wie sie endlich Erfolg hat. Ohne große Euphorie steht sie da in dem kleinen Laden, wo ein trauriger Verkäufer ihr die Beutel mit der rosa-weißen Süßigkeit reicht. Und lakonisch bemerkt sie: „Ich wusste nicht, ob ich einen oder zwei Beutel kaufen sollte. Da kaufte ich drei.“ (S. 25)
Es fiel mir wirklich schwer, dieses Buch zu beenden. Die Story um Nadja, Salim und Netanel ist viel zu schnell vorbei. Voll spannender Momente, dramatischer Gefühle und erfrischendem Humor, dabei herrlich unkonventionell. Besser als 100 Erziehungsratgeber. Man kann sich nur wünschen, dass Daniella Carmi, noch mehr solcher Bücher schreibt!
Daniella Carmi. Lucy im Himmel. Berlin Verlag in der Piper GmbH. Berlin 2013. 143 Seiten
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