Was muss das für ein großartiges Gefühl sein: In einem alten Holzhaus in Honolulu zu sitzen (wo es, nach Murakamis eigenen Worten, wunderbar langweilig ist) und zu wissen, dass gerade unzählige Leser auf der anderen Seite des Kontinents ihre Zeit mit Tsukuru Tazaki verbringen. Meine Phantasie reicht dafür kaum aus. Aber verrückt und schön, dass muss es wohl sein, dieses Gefühl. Wenn Schreiben für ihn der Sinn des Lebens ist (gelesen im Interview in der Zeit vom 08.01.14), dann ist „Gelesen werden“ in diesen Sinn wohl inbegriffen. Dort in Honolulu genießt er Stille, Einsamkeit, aber auch Zeit für Schwimmen und Triathlon. Er ist den Honolulu-Marathon gelaufen! Faszinierend. Wo er doch heute seinen 65. Geburtstag feiert!
In seinem neuen Roman verbinden sich wieder Traumsequenzen mit realen Situationen. Murakami glaubt auch im wirklichen Leben, dass beide Welten – die wirkliche und eine andere irreale Welt – zugleich bestehen, sich vermischen. Im Zeit-Interview sagt er, er würde manchmal so eine Art Brise spüren. Erstmalig sei ihm das beim Schreiben von „Wilde Schafsjagd“ passiert. Da sei von der anderen Seite der Schafsmann aufgetaucht: „Also habe ich ihn beschrieben. Mehr musste ich nicht tun.“
Mit diesem Wissen ist es noch viel mehr Genuss, die Story zu lesen. Eigentlich kann ich mir einen Murakami-Roman ohne surreale Momente kaum vorstellen. Es gehört einfach dazu. Und so muss nun Tsukuru, um sich für eine neue Beziehung zu öffnen, in die Vergangenheit reisen. Eine seelische Verletzung vor 16 Jahren hatte sich tief in sein Herz gegraben. Wieder sind es ganz besonders die Mädchen, die als unvergessliche Figuren in Erinnerung bleiben.
So unvergessen wie Shimamoto San aus „Gefährliche Geliebte“ und Aomame aus „1Q84“. Nur heißen sie diesmal Kuro, Shiro und Sara. Es gibt eine Szene, die zu meinen Lieblingsszenen gehört. In wunderschönem Schwarz/Weiss-Kontrast beschrieben. Aus dem Blickwinkel von Tsukuru Tazaki schauen wir Shiro dabei zu, wie sie am Yamaha-Flügel sitzt und ihr Lieblingsstück „Le mal du pays“ aus den „Années de pèlerinage“ von Franz Liszt spielt. Die leicht geöffneten Lippen. Das schwarze Haar. Der weisse Schwanenhals. Haut wie Porzellan. Und wie ihre zarten weißen Finger über die schwarzen und weißen Tasten gleiten.
Diese melancholische Melodie zieht sich als roter Faden durch den gesamten Roman, verbindet Vergangenes mit Gegenwärtigem. Mal sind es knisternde Schallplatten, auf den Plattenteller gelegt, dann wieder CDs, in eine kleine Stereoanlage geschoben. Ein schlichtes Thema, immer unverändert schön. Doch jedesmal mit einem ganz eigenen Zauber. Und der entfaltet sich, so findet Tsukuru, ganz besonders am Seeufer in Finnland. Hier besucht er Kuro. Das zweite Mädchen aus der Fünfergruppe. Und hier in Finnland gibt es ein weiteres Bild, das ich einfach nicht vergessen kann. Weil es die Melancholie des Abschieds einfach, aber eindrucksvoll beschreibt (S. 282/283).
Tsukuru verlässt Kuro, die ihn noch vor den Losfahren vor den Kobolden warnt. Er winkt ihr aus dem Auto zu, gibt dann Gas, fährt los. Er weiss, er wird hier nie wieder herkommen. Auch wenn ihn das traurig stimmt, aber es gibt kein Zurück.
„Der Wind hatte aufgefrischt, und auf dem See bildeten sich hier und da kleine Schaumkronen. Ein großer junger Mann paddelte in einem Kajak langsam und lautlos wie ein großer Wasserkäfer vorbei.“
Tsukuru Tazaki wird mich noch viele Tage begleiten. Immer wieder nehme ich diesen außergewöhnlichen Roman in die Hände und wünsche, dass es jedem so gehen mag: einfach glücklich zu sein, seine Geschichte gelesen zu haben.
Happy birthday, dear Mister Murakami!!

Haruki Murakami. Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Dumont Verlag. 2014
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