Schlagwort-Archive: Kanada

Spannend, dystopisch und leise hoffnungsvoll – Der Report der Magd

atwood_der_report_der_magdWenn man einen Roman nach vielen (sehr vielen!) Jahren erneut liest, dann begegnet man irgendwie auch einer jüngeren Version seiner selbst. Ich sehe mich, wie ich damals erschüttert und mit Schauern der Angst das Schicksal Desfreds verfolgte. Erinnerten mich doch viele Passagen an die gerade untergegangene DDR. Abweichler vom vorgegebenen System werden bestraft. Orangen sind rar. Mauern sind mit Stacheldraht gesichert …

Heute bin ich einfach extrem fasziniert, wie sehr Margaret Atwood schon 1985 (Erscheinungsjahr des englischen Originals) gesellschaftliche und politische Strömungen erahnen konnte und diese ins Zentrum ihres Romans stellt. Mit coolem Weitblick schaut sie aus den Achtziger Jahren des 20. in die Zwanziger Jahre des heutigen Jahrhunderts. Weiterlesen

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Das passt in jeden Koffer – Bücher für den Sommer

Als Buchhändlerin habe ich immer wieder die große Chance, aktiv mit daran beteiligt zu sein, ein Debüt durchzusetzen. Das ist extrem spannend und unglaublich schön. Ein unbändiges Glücksgefühl empfinde ich jedesmal neu, wenn ich eins dieser Bücher dann Monate später als Taschenbuch in der Hand halte und es erneut mit Leidenschaft empfehlen kann. Als Urlaubslektüre beispielsweise, weil ein Taschenbuch noch immer in jeden Koffer passt. Geschichten voll sprachlicher Schönheit und außergewöhnlichen Inhalts erzählen diese drei wundervollen Autorinnen:

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Jocelyne Saucier. Ein Leben mehr

saucier_ein_leben_mehrIn der Wildnis und Abgeschiedenheit der kanadischen Wälder gelingt drei Menschen das Unmögliche – sie nehmen sich die Freiheit, zu leben und zu sterben, wie sie es wünschen. Genießen jeden Tag so intensiv, als ob es der letzte wär. Jocelyne Saucier, die selbst in einem kleinen Ort im Wald im nördlichen Québec lebt, hat mit diesem schmalen Buch einen großen Roman geschrieben, in welchem sie das Thema „Selbstbestimmt leben und sterben“ aufgreift und verarbeitet. Jeder Satz stimmt, nichts ist beschönigt und dennoch lebt ein ganz besonderer Zauber zwischen den Zeilen, klingen manche Textstellen wie ein alter melancholischer Gesang. Vermischt mit den Stimmen des Waldes.  Weiterlesen

Ruth Ozeki. Geschichte für einen Augenblick

Ozeki, Geschichte für einen AugenblickVor einiger Zeit wurde ich auf der Seite der Bücherphilosophin auf diesen Roman aufmerksam und fiebere seitdem der Geschichte von Naoko und Ruth entgegen. Ein Glücksmoment, als ich den Roman in der Hand halte. Und Tausende von Glücksmomenten, ihn schließlich zu lesen…. Seite für Seite und Wort für Wort. Ozekis Geschichte hat mich in einen Zustand der „Sein-Zeit“ versetzt: Jeder Augenblick wird zum kostbaren Geschenk des Universums. Doch weil jedes Buch irgendwann endet, bewege ich mich unweigerlich auf die letzten Sätze zu, empfinde Angst und Trauer. Angst vor einem möglicherweise nicht positiven Ende. Trauer, dass es dann endgültig vorbei ist. Doch beide Gefühle verfliegen, überwiegt doch das Glück, eine so außergewöhnliche Story gelesen zu haben. Und ich kann sie immer wieder lesen, wenn ich mag! Ähnlich wie mir mit Ruth Ozekis Roman ging es Mara von Buzzaldrins Bücher

Und jetzt stelle ich mir vor, ICH hätte Naokos Tagebuch am Strand gefunden. Zwischen Seetang und Muscheln verborgen. Ich würde anfangen zu lesen und der Ich-Erzählerin dabei so nah kommen, wie man den Gedanken eines anderen nur nah kommen kann. Auf magische Weise wären wir untrennbar miteinander verbunden. Ich glaube, Nao (gesprochen wie das englische now) meint genau diese Magie, wenn sie am Beginn ihres Tagebuchs zu einer unbekannten Leserin in der Zukunft spricht:

„Hallo! Ich heiße Nao, und ich bin Sein-Zeit, ich bin Sein und ich bin Zeit. Weißt du, was das ist? Wenn du einen Moment Zeit hast, erzähl ich es dir … Ich sitze gerade in einem französischen Dienstmädchencafé in Akiba Electricity Town und höre ein trauriges Chanson, das irgendwann in deiner Vergangenheit spielt, die zugleich meine Gegenwart ist, schreibe dies und mache mir Gedanken über dich, irgendwann in meiner Zukunft. Und wenn du das hier liest, machst du dir vielleicht jetzt auch Gedanken über mich. Du machst dir Gedanken über mich. Ich mache mir Gedanken über dich.“ (S.9)

Über magische Geheimnisse dieser Art, aber auch über ganz reale Probleme philosophiert das in Tokio lebende Mädchen Naoko Yasutani. Besonders liebevoll spricht Nao von der geliebten Urgroßmutter Jiko, die als Nonne in einem zen-buddhistischen Kloster lebt und bereits 104 Jahre alt ist! Von Jiko lernt Nao, Probleme durch richtiges Atmen anzugehen. Sie lernt, wie man meditiert und wie man jeden Augenblick im Jetzt lebt. All ihre Gedanken schreibt Nao in ein geheimnisvolles rotes Tagebuch mit dem Aufdruck von Marcel Prousts Roman „À la recherche du temps perdu“.

Tagebuch 025

Dieses rote Tagebuch, geschützt durch eine Plastiktüte, findet Ruth am Strand einer kanadischen Pazifikinsel. Sie fragt sich, wie das Buch hierherkam. Ist es erstes Schwemmgut aus Japan vom Tsunami? Sie beginnt zu lesen. Erst zögerlich, dann wie gebannt. Schulmädchenprobleme, Mobbing an der Junior-Highschool. Ein arbeitsloser Vater, der die Wohnung kaum noch verlässt. Eine depressive Mutter, die – blass und schön – gern Quallen mit langen Tentakeln im städtischen Aquarium beobachtet.  Ein Großvater, der im zweiten Weltkrieg als Kamikazekrieger gestorben ist. Naos Erzählton klingt heiter und naiv. Obwohl sie nicht immer heiter/fröhlich und schon gar nicht naiv ist. Ich glaube, sie ist einfach unglaublich beherrscht. Denn manchmal schlägt dieser lockere Erzählton um in einen explosionsartigen Sturm aus Wut und Schmerz. Es folgen Geständnisse, einer wuchtigen Tsunamiwelle gleich. Doch genauso schnell wie sie sich entrollt, glättet diese Welle der Wut sich und Nao geht wieder über zu ihrem absolut liebenswerten frechen Schulmädchenton.

Für mich hätte der Roman gern 1000 Seiten haben können. Naokos Geschichte hat mich einfach umgehauen. Sie hat mich tagelang begleitet, mich tief berührt. Und eigentlich hat sie mich auch inspiriert. Denn es beeindruckt mich sehr, wie Nao sich dank der Zen-Weisheiten ihrer Großmutter verändert. Doch ist das nur  der eine Teil des Buches, denn parallel zu Naokos Tagebuchnotizen, erlebt man Ruth. Deren Leben sich ebenfalls verändert. Zwei starke, unvergessliche Charaktere und eine Fülle von neuen Erkenntnissen. Und wer jetzt richtig neugierig geworden ist auf Ruth Ozeki, die selbst Zen-Priesterin, Autorin und Filmregisseurin ist, der schaut mal auf ihre website:  Ruth Ozeki . Ganz besonders lohnt sich der Trailer zum Roman –

Ruth Ozeki. Geschichte für einen Augenblick. S.Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2014. 559 Seiten