Hiromi Kawakami. Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß

kawakami_himmelEs muss einfach sein. Es gibt so Tage, da interessiert mich nichts Neues, da hilft nur ein Roman aus längst vergangenen Tagen, den ich ein zweites Mal lese. Ich freue mich auf die Begegnung mit den mir bekannten Figuren, bin gespannt, was ich noch erinnere und was ich neu entdecken werde …

Tsukiko ist 37 Jahre alt, als sie ihrem Japanisch-Lehrer Harutsuna Matsumoto-Sensei in einer Kneipe wiederbegegnet.
Gerade hatte sie dem Wirt ihre Bestellung zugerufen, da vernimmt sie neben sich die Stimme eines Mannes, der ebenfalls diese Gerichte bestellt – Thunfisch mit fermentierten Sojabohnen, gebratene Lotuswurzeln in süßer Sojasauce und eingelegte Perlzwiebeln. Erstaunt stellt Tsukiko fest, dass direkt neben ihr der Sensei sitzt. Er ist es tatsächlich!

Beide sind einsam, beide mögen sich. Und beide begegnen sich wie zufällig von nun an regelmäßig in diesem kleinen Laden, speisen gemeinsam, trinken warmen Sake aus kleinen Keramikflaschen und reden. Bereits nach wenigen Seiten, aber spätestens an folgender Stelle der Geschichte, weiß ich, es ist mehr als Sympathie, das beide verbindet: Der Sensei war für mich, wie soll ich sagen, wie die Buchschleife um den Schutzumschlag eines Buches, die man nicht abmachen und wegwerfen will (S. 32).

Doch beide sind schließlich keine Teenager mehr. Zu viel steht auf dem Spiel, um sich einfach zu offenbaren. Respekt. Ansehen. Der Sensei ist außerdem um viele Jahre älter als Tsukiko (für mich sieht er übrigens aus wie Haruki Murakami auf einem dieser Fotos mit dem nachdenklich-weisen Blick). Und auch wenn Tsukiko sehr deutliche Signale sendet – der Sensei scheint unempfänglich dafür. Und genau das ist herzzerreißend schön! Und wem ist das denn nicht bekannt – dieses Hoffen und Zagen. Ein kleiner mutiger Schritt nach vorn und zwei angstvolle Schritte zurück. Immer wieder flüstert Tsukiko sich zu, Erwartungen streng verboten! Denn so hatte sie es im Fliegenden Klassenzimmer bei Erich Kästner gelesen. Dort hatte der Held der Geschichte sich selbst immer ermutigt mit den Worten: Weinen streng verboten!

Die japanische Bedeutung für Mond ist Tsuki. Ich finde das schön, nehmen doch auch Tsukikos Gefühle für den Sensei zu und ab wie der Mond am Himmel. Ihre Verfassung schwankt täglich. Seine Distanziertheit zu ertragen, fällt ihr schwer. Er hat so etwas Stilles und sehr Zurückhaltendes, dass es sie ganz verrückt macht. Was sie wiederum sehr mag an ihm, das ist seine besondere Art, unvoreingenommen andere Meinungen anzuhören. So bittet Tsukiko ihn, sich ein Handy zuzulegen, um ihn telefonisch immer erreichen zu können. Grundsätzlich hätte er nichts dagegen, sagt der Sensei aber könnte Tsukiko es bitte Mobiltelefon nennen. Den Begriff Handy fände er abstoßend. Nie verbessert er Tsukiko auf eine herablassende Art. Er erklärt die Dinge aus seiner Sicht. So ein Mensch ist der Sensei. Für Tsukiko ist das neu und es macht sie nur noch verliebter.
Und so bin ich Seite an Seite mit ihnen, begleite die beiden, bis die Geschichte – leider viel zu schnell – endet.

kawakami_himmel_hcEine Liebesgeschichte, so steht es auf dem Cover meiner Ausgabe von 2008. Für mich ist es eine der schönsten Geschichten über die Liebe. Schaue ich in mein Bücherregal, entdecke ich sofort mehrere dieser Art, möchte sie alle jetzt und hier wieder lesen! Bei einer Tasse Kaffee mit Zimtgebäck: Die vierzig Geheimnisse der Liebe (Elif Shafak), Gefährliche Geliebte (Haruki Murakami), Léon und Louise (Alex Capus), Der Liebhaber (Marguerite Duras), Der englische Harem (Anthony McCarten), Die Mathematik der Nina Gluckstein (Esther Vilar) … Liebe kann wundervoll sein und sie kann uns beflügeln. Liebe kann aber auch Schmerz bereiten und sie kann sehr tragisch sein. Sie kann uns zu Boden werfen und in tagelange Trauer bringen … Nicht immer gibt es ein happy-end. Weder im wirklichen Leben, noch im Roman. Es ist seltsam, aber die schönsten Liebesromane enden eben nicht zu 100 % glücklich. Und was dann bleibt ist so ein Gefühl zwischen totalem Glück und tiefster Traurigkeit.

Euch allen einen schönen dritten Advent. Lesend, liebend, lachend. Vielleicht mit einem tragisch-schönen Liebesroman.

Hiroki Kawakami. Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Verlag Carl Hanser. München 2008. 182 Seiten. Auch als Taschenbuch bei dtv. München 2010. 192 Seiten. 8,90 €
P.S.: Die Tasse ist handbemalt / Artwork by Gemma Correll in the UK

12 Antworten zu “Hiromi Kawakami. Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß

  1. Liebe Jacqueline,
    Erst kürzlich hat mein Blick Kawakami im Buchregal gestreift. Ich besitze alle Romane von ihr und habe sie geliebt! Schön, dass du noch einmal darauf hinweist! Ich finde es schade, dass keine neuen in Aussicht sind …

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    • Liebe Marina,
      es kann ja aber auch ein positives Signal sein. Vielleicht lässt sie sich einfach ein bißchen Zeit und überrascht uns dann mit einem richtig guten Roman. „Der Himmel ist blau …“ hat mir von allen am besten gefallen. So eine Geschichte würde ich gern wieder von ihr lesen.
      Schöne Grüße, Jacqueline

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  2. liebe Masuko, wieder einmal hast Du es geschafft, mir ein Buch zu empfehlen, und wieder ein Buch aus Japan, Land einiger Träume.Ich werde es demnächst kaufen, letztens erst habe ich „Herr Nakano und die Frauen“ gelesen. Ich schreibe später dann auch was dazu an dieser Stelle.

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  3. Das ist eine wahrer Satz: „Und was dann bleibt ist so ein Gefühl zwischen totalem Glück und tiefster Traurigkeit.“ Gut ausgedrückt!

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  4. Jetzt habe ich dieses Buch auch gelesen, wie auch noch andere von Hiromi Kawakami. Und wieder konstatiere ich: Masuko, Deine Tipps und Buchrezensionen sind GOLD WERT!
    Es sind solche unaufgeregten und liebenswerten Geschichten, die ich gerne lese. Ich habe beruflich mit den Schattenseiten des Lebens zu tun, so daß es mir immer wieder guttut, die angenehmen Seiten zu lesen.
    Es ist auch keine allzu ungewöhnliche Geschichte, wenn man später mal alte Lehrer wiedertrifft, sich über die Schulzeit austauscht und miteinander redet. Ob es nun häufiger vorkommt, daß ein Lehrer und seine Schülerin sich dann lieben, mag irgendeine Statistik kennen, das ist aber auch irrelevant. Es ist ganz einfach angenehm, von den kleinen Alltäglichkeiten zu lesen und vom Verhältnis der beiden Protagonisten.
    Daß es nun auch noch ein Buch ist, welches in meinem Lieblingsland Japan angesiedelt ist, macht solche Bücher für mich noch lesenswerter, denn vor meinem inneren Auge entsteht dann ein Bild, wie es wohl so weit weg im Osten aussieht, wie sich die beiden in einer Bar treffen und Sake trinken. Es ist ähnlich wie in den Büchern von Banana Yoshimoto, es sind Ausschnitte aus Japan..

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    • Lieber Karsten, ich lese deine Kommentare immer sehr gern. Und es freut mich auch, dass ich mit meinen Empfehlungen immer mal deinen Nerv treffe. Ja, in so einer kleinen Bar würde ich zu gern auch mal sitzen. Sake schlürfen, Bier trinken und einfach reden … aktuell fällt mir jetzt kein damaliger Lehrer ein, mit dem ich das gern tun würde. Egal!
      Bis zum nächsten Mal, vielleicht dann wieder mal zu einem Buch von Murakami? Wie wäre das? Masuko 🙂

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  5. Gute Idee, ich habe vor einiger Zeit 1Q84 auf den Kindle geladen und werde das lesen. Ich habe schon einige Bücher von ihm gelesen, allerdings sind drei davon eher nicht im Fokus der Belletristik, denn „Nach dem Beben“,“Untegrundkrieg“ und „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ sind zwar großartig geschrieben, aber weitab von seiner Mystik und seinen Wanderungen zwischen realer Welt und Phantasie. Ich habe als Letztes „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ gelesen. Mal sehen, wie sich meine neue Auswahl so liest.

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    • 1Q84. Wow! Du hast einen seiner ganz großen Romane gewählt! Aomame und Tengo – für mich unvergessen. Es wird dir sicher gefallen.
      Ich mag auch seine nicht-belletristischen Bücher, kenne da aber bisher nur das Laufbuch und das Buch über ihn als Schriftsteller (im Herbst 2016 erschienen).
      Willkommen also in seiner Welt mit den zwei Monden und mit den vielen anderen murakamiesken Überraschungen 😉

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  6. Das Buch „Untergrundkrieg“ hat mich nicht nur privat interessiert, sondern auch so ein wenig dienstlich. Es ist dort in den Zeugenaussagen, die Murakami zitert, ein höchst beklemmendes Bild zu erkennen über das, was sich in den Stunden direkt nach dem Terroranschlag in Tokio abgespielt hat, es war das Nichterkennen dessen, was da passiert ist. Es dauerte sehr lange, bis überhaupt jemand begriffen hat, daß dort ein monströser Terroranschlag stattfand. Das wäre im übrigen der Grund, dessentwegen ich dieses Buch allen meinen Kollegen und Chefs zum Lesen geben würde.
    Jetzt lese ich aber erstmal etwas, was mir Freude macht und mich ausspannen läßt.

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