Schlagwort-Archive: Japan

Fragen zum neuen Roman von Murakami – Fragen zu Kishidanchō goroshi

murakami_commendatore_band1In wenigen Tagen erscheint der erste Band von Haruki Murakamis Die Ermordung des Commendatore (im japanischen Original: Kishidanchō goroshi). Meine Nerven liegen praktisch blank. Ich bin aufgeregt wie ein Kind vor Weihnachten. Gedanklich öffne ich seit Anfang Januar jeden Tag ein Türchen in meinem imaginären Adventskalender. Bis ich das Buch endlich in der Hand halten werde.

Oft habe ich mir in den letzten Wochen versucht vorzustellen, wie aufregend und hektisch es erst im DuMont Buchverlag sein muss! Vertrieb, Presseabteilung, Druckerei, Marketing … laufen nicht alle Abteilungen auf Hochtouren? Fragen türmten sich auf. Fragen außerdem zur Übersetzung und zum Inhalt des Buches. Ich habe diese Fragen dann an den Verlag geschickt. Die Antworten der Übersetzerin Ursula Gräfe (UG) und der Vertriebsleiterin Imke Schuster (IS) sind vor wenigen Tagen in meinem Mailordner gelandet.  Weiterlesen

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Die Kieferninseln von Marion Poschmann

poschmann_die_kieferninselnIch bin nie in Japan gewesen und doch voller Sehnsucht nach diesem Land, seiner Natur und seinen Menschen. Ganz selbstverständlich finde ich es deshalb (wenn auch nicht mit dem Flugzeug), so doch ab und zu im Kopf dorthin zu reisen. Wozu sonst gibt es Romane?
Und so träume ich mich mit Die Kieferninseln nach Japan. Eine erste Begegnung mit der Autorin konnte ich bereits auf dem Suhrkamp-Sommerfest genießen. Gemeinsam saßen sie und Professor Thomas Macho auf der Bühne am Wannsee, um über ihre neuen Bücher zu reden, in denen es (auch) um Selbstmord geht (Thomas Macho. Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Suhrkamp 2017).
Dort hörte ich zum ersten Mal von den vielen Kultorten, die es ganz besonders in Japan gibt. Magische Orte, zu denen unzählige Menschen jedes Jahr reisen, um sich in den Tod zu stürzen. Und von denen auch Die Kieferninseln erzählt. Dieses schmale Buch – das so alles zugleich ist: Liebesgeschichte, Reiseroman und Hommage für Japan. Philosophisch, klug unterhaltend und geheimnisumwoben spannend.  Weiterlesen

Hiromi Kawakami. Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß

kawakami_himmelEs muss einfach sein. Es gibt so Tage, da interessiert mich nichts Neues, da hilft nur ein Roman aus längst vergangenen Tagen, den ich ein zweites Mal lese. Ich freue mich auf die Begegnung mit den mir bekannten Figuren, bin gespannt, was ich noch erinnere und was ich neu entdecken werde …

Tsukiko ist 37 Jahre alt, als sie ihrem Japanisch-Lehrer Harutsuna Matsumoto-Sensei in einer Kneipe wiederbegegnet.
Gerade hatte sie dem Wirt ihre Bestellung zugerufen, da vernimmt sie neben sich die Stimme eines Mannes, der ebenfalls diese Gerichte bestellt – Thunfisch mit fermentierten Sojabohnen, gebratene Lotuswurzeln in süßer Sojasauce und eingelegte Perlzwiebeln. Erstaunt stellt Tsukiko fest, dass direkt neben ihr der Sensei sitzt. Er ist es tatsächlich!

Beide sind einsam, beide mögen sich. Und beide begegnen sich wie zufällig von nun an regelmäßig in diesem kleinen Laden, speisen gemeinsam, trinken warmen Sake aus kleinen Keramikflaschen und reden. Bereits nach wenigen Seiten, aber spätestens an folgender Stelle der Geschichte, weiß ich, es ist mehr als Sympathie, das beide verbindet: Der Sensei war für mich, wie soll ich sagen, wie die Buchschleife um den Schutzumschlag eines Buches, die man nicht abmachen und wegwerfen will (S. 32). Weiterlesen

Christine Wunnicke. Der Fuchs und Dr. Shimamura

wunnicke_der_fuchsIn seinem Haus in Kameoka sitzt Ende Februar 1922 in einem Rattansessel Dr. Shimamura, Professor emeritus für Nervenheilkunde in Kyoto. Sein Fieber steigt, denn Shimamura leidet an Schwindsucht. Ihm ist kalt, weshalb er über seinem Kimono einen verschlissenen Morgenrock aus Deutschland trägt. Weil sich die Ärmel des seidigen Kimonos ständig verknautschen und um seine mageren Arme herum verdrehen, will er seit Ewigkeiten den Kimono über statt unter dem Morgenrock tragen, tut es aber nie. Eigentlich hasst er diesen Morgenrock, den er vor etwa 40 Jahren in einem eleganten Modegeschäft am Pariser Platz in Berlin erstanden hat. Shimamura ist mir sofort sympathisch. Wie er dort, umsorgt von vier Frauen, in seinem kleinen Haus sitzt und auf das vergilbte Fensterpapier schaut, welches in der Farbe seinem Morgenmantel ähnelt. Seine Gedanken gehen zurück nach Wien, wo er als Eingebildeter Kranker zu einem Kostümfest eben jenen Morgenmantel trug, nebst einer Schlafmütze und einem aus der Irrenanstalt entliehenem Gerät. Viele junge Mädchen waren auf jenem Karneval. Aber … wer hatte ihn damals eingeladen? Daran erinnert er sich nicht.  Weiterlesen

Haruki Murakami. Wenn der Wind singt. Pinball 1973 – eine bekennende Harukinistin erzählt

murakami_wenn_der_wind_singtAm 15. Oktober 2010 bin ich Haruki Murakami begegnet. Es gab keine Garantie für sein Kommen. Es gab keine Garantie für sein Bleiben – nicht einmal, als er dann wirklich und real dort auf der Bühne im Admiralspalast saß. An einem schmalen Holztisch, mit Blick ins Publikum. Und jeder wusste, er würde wortlos die Bühne verlassen, sollte ein einziges Handy aufblitzen.  Bitte nicht fotografieren, mahnte ein Banner über der Bühne.

Vielleicht gerade deshalb ist dieses Ereignis in meinem Kopf minutiös aufgezeichnet. Ich musste mich nicht auf den Moment für das perfekte Foto konzentrieren. Ich war hochgradig und mit 100 % in der Gegenwart. Ganz besonders, als ich mich in die Schlange zum Signieren einreihte. Auch hier gab es Beschränkungen: keine Bierdeckel, keine Notizblöcke und auch keine Unterarme (!!) würde Murakami signieren, sondern nur ein einziges Buch: 1Q84!! Mit diesem Roman und der Taschenbuchausgabe von Wilde Schafsjagd unter dem Arm, rückte ich in der Schlange weiter vor. Stand dann vor ihm. Mutig, optimistisch und mit einem strahlenden Lächeln wedelte ich mit der Wilden Schafsjagd. Auf meine Frage „It’s possible, to take two?“, nickte Murakami großzügig. Signierte beide Bücher für mich. Dabei haben wir ein bißchen geplaudert.

Und jetzt sitze ich hier, habe diese Bilder im Kopf und lese seine beiden ersten Romane Wenn der Wind singt (1979) und Pinball 1973 (1980).
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Banana Yoshimoto. Moshi, Moshi

Yoshimoto_moshiVerliert man als Teenager seinen Vater, so  ist das verdammt hart. Geschieht dies auch noch unvorbereitet und es bleibt nicht einmal Zeit, um Abschied zu nehmen, kann einen das total aus der Bahn katapultieren. Yutchan ist etwa zwanzigjährig, als ihr Vater Selbstmord begeht. Sie hat ihn sehr geliebt. Als kleines Mädchen hatte Yutchan ihn oft begleitet nach Thailand, Shanghai und New York. Er war Keyborder in einer populären japanischen Rockband. War er nicht auf Reisen, kehrte er oft erst mitternachts heim und im Haus lief Musik. Freunde waren da und bis in den Morgen hinein lauschte die kleine Yutchan den leise gespielten Jamsessions.

Der Schock ist groß, die Trauer tief. Yutchan verlässt die elterliche Wohnung, um in den berühmten Tokioter Szenebezirk Shimokitazawa zu ziehen. Weiterlesen

T.C. Boyle. Der Samurai von Savannah

boyle_samurai_von_savannahRomane von T.C. Boyle mit Happy End? Sollte man besser nicht erwarten. Gibt es denn im echten Leben ein Happy End? Okay, manchmal vielleicht … Nicht jedoch bei Boyle. Skurril, witzig, böse und verrückt sind seine Geschichten. Und das trifft ganz besonders auf den Samurai von Savannah zu.

Boyle erzählt hier die Geschichte des 20jährigen Matrosen Hiro Tanaka aus Japan, der in die USA will. Grund dafür sind die fiesen Attacken, die er wegen seines Aussehens aushalten muss (sein Vater ein amerikanischer Hippie, den Hiro nie kennen gelernt hat). Langnase, Butterstinker, Halbblut, ein happa – das ist er für die anderen. „Doch die Amerikaner, das wußte er, waren ein Volk aus vielen Rassen … In Amerika konnte man ein Teil Neger, zwei Teile Serbokroate und drei Teile Eskimo sein und dennoch erhobenen Hauptes durch die Straßen gehen … Weiterlesen

Keigo Higashino. Verdächtige Geliebte – Fernweh JAPAN

939668_Higashino_VerdaechtigeGeliebte.inddFür meine heutige Fernweh-Empfehlung in acht Sätzen wähle ich als Reiseziel Japan.

Yasuko Hanaoka – so heißt die „verdächtige Geliebte“ – erdrosselt gleich zu Beginn der Story ihren unausstehlichen Exmann Togashi mit einem Elektrokabel! Fieses Opfer, nette Mörderin….

… Was für eine Wahnsinnsidee von Keigo Higashino (1958 in Osaka /Japan geboren), dass ich als Leser nicht nur bei dem Mord dabei bin, sondern für die Mörderin Yasuko die allergrößte Symphatie empfinde. Ebenso geht es dem freundlichen und unsterblich verliebten Mathelehrer Ishigami, Nachbar von Yasuko. Täglich kauft er sein Bento in dem kleinen benten-tei, dem Laden, wo sie arbeitet. Auf geheimnisvolle Weise bietet er Yasuko nicht nur an, die Leiche zu beseitigen, sondern auch, mit allen Mitteln der logischen Mathematik ein absolut sicheres Alibi für sie auszutüfteln.

Womit Ishigami nicht rechnet, das ist die Macht der Tatsachenbeweise seines Gegners, dem Physiker Dr. Yukawa. Zwei Supergenies in einem außergewöhnlichen Zweikampf, der mir den Atem raubt und mich mit großartigen Stimmungen sowie unerwarteten Wendungen verzaubert.

Keigo Higashino. Verdächtige Geliebte. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Klett-Cotta 2012. 320 Seiten. 19,95 € /Piper Taschenbuch 2014. 320 Seiten. 9,99 €

 

Julie Otsuka. Wovon wir träumten. Aus dem Amerikanischen von Katja Scholtz

Otsuka, JulieWeil Julie Otsuka mich mit ihrem Erzählton einfach total überrascht hat, beginne ich zur Einstimmung einfach mit einer Leseprobe:

„Die meisten von uns auf dem Schiff waren wohlerzogen und überzeugt, dass sie gute Ehefrauen sein würden. Wir konnten kochen und nähen. Wir konnten Tee servieren und Blumen arrangieren und stundenlang still auf unseren flachen, breiten Füßen sitzen, ohne je etwas von uns zu geben, das von Belang war. Ein Mädchen muss sich einem Zimmer anpassen: Es muss anwesend sein, ohne den Anschein zu erwecken, dass es existiert. Wir wussten uns auf Beerdigungen zu benehmen und konnten kurze, melancholische Gedichte über das Verstreichen des Herbstes schreiben, die genau siebzehn Silben lang waren … eine von uns – die Tochter des Reismüllers – konnte mit einem achtzig Pfund schweren Reissack auf dem Rücken zwei Meilen zu Fuß in die Stadt laufen, ohne dass sie auch nur ein einziges Mal ins Schwitzen kam. Es kommt nur auf die richtige Atmung an. Die meisten von uns hatten gute Manieren und waren überaus höflich…“ (S. 12/13)

Wundervoll poetisch ist der Ton, mit welchem Julie Otsuka diese Geschichte erzählt, für welche sie 2012 mit dem Pen/Falkner Award ausgezeichnet wurde. Die 1962 geborene Autorin ist in Amerika aufgewachsen und lebt in New York City.

Inspiriert wurde ihr Roman durch die Lebensgeschichten japanischer Einwanderer, welche Anfang des 20. Jahrhunderts nach Amerika kamen. Otsuka hat unzählige historische Quellen recherchiert und sich beim Schreiben schließlich für ein einziges WIR entschieden. So erklingen die zahlreichen Stimmen der japanischen Mädchen zu einer Art von Chor, aus welchem jedes einzelne der Mädchen kraftvoll und intensiv leuchtet. Otsuka hat für ihre Geschichte einen Rhythmus gefunden, der einem lyrischen Text oder einer kleinen Sinfonie eher gleicht, als einem Roman. Auch wenn dieser Roman natürlich einer Chronologie folgt, kann man ihn wahllos aufschlagen, um sich auf diesen Rhythmus einzulassen, der fasziniert und zutiefst berührt.

„In jener Nacht nahmen unsere neuen Ehemänner uns schnell. Sie nahmen uns ruhig. Sie nahmen uns sanft, aber fest, und ohne ein Wort zu sagen … Sie nahmen uns, während wir unter unseren weißen Seidenkimonos zu ersticken drohten … Sie nahmen uns gierig, hungrig, als ob sie jahrhundertelang auf uns gewartet hätten.“ (S. 29)

Hautnah erlebt man mit den Mädchen die beschwerliche Reise, das ernüchternde Ankommen und das Leben an der Seite ihrer neuen Männer. Eine Rückkehr nach Japan ist absolut ausgeschlossen. Es ist auch ein Stück amerikanischer Geschichte, das Otsuka beschreibt. Ein Stück Geschichte, das mir relativ unbekannt war, das mich überraschte, mich erschreckte und mich nachdenklich machte –

wovon wir träumtenAnfang des 20. Jahrhunderts überqueren Tausende der japanischen Mädchen voller Hoffnung auf ein neues Leben den Ozean. Man nennt sie pictur brides, Foto-Bräute. Werbend schicken japanische Männer Briefe mit Fotos nach Japan, um die Mädchen für eine Hochzeit nach Kalifornien zu locken. Oft sind die Fotos geschönt, veraltet oder gar gefälscht. Die Mädchen bewahren sie in winzigen ovalen Medaillons auf, in Seidentäschchen, in alten Teedosen und roten Lacketuis. Sie bewahren sie in den Ärmeln ihrer Kimonos und zwischen alten, zerlesenen Ausgaben buddhistischer Sutras auf. Auch die Schwester von Otsukas Großmutter war eine picture bride. Und so ist „Wovon wir träumten“ außerdem eine persönliche Geschichte.

Vorrangig ist sie für mich aber eine zeitlose und wie für die Ewigkeit geschriebene Story. Weil Otsuka all jenen Männern, Frauen und Kindern eine Stimme gibt, die – egal aus welchen Gründen – ihre Heimat verlassen müssen, um in eine große Ungewissheit zu gehen. Voller Hoffnung und Zuversicht. Wie diese japanischen Mädchen, die davon träumten, einen Prediger zu heiraten, Geld zu sparen, Wein anzubauen. Die davon träumten, eine eigene Farm zu kaufen, aufs College zu gehen, ein geschecktes Pony zu besitzen. Die davon träumten, ein eigenes Zimmer mit einem Türschloss zu haben oder ein Swing-King-Schlagzeug mit einem Hi-Hat-Becken…….

Julie Otsuka. Wovon wir träumten. mareverlag Hamburg 2012. 159 S., 18,- €/ auch als Taschenbuch beim Goldmann Verlag 2014. 160 S., 8,99 €

Ruth Ozeki. Geschichte für einen Augenblick

Ozeki, Geschichte für einen AugenblickVor einiger Zeit wurde ich auf der Seite der Bücherphilosophin auf diesen Roman aufmerksam und fiebere seitdem der Geschichte von Naoko und Ruth entgegen. Ein Glücksmoment, als ich den Roman in der Hand halte. Und Tausende von Glücksmomenten, ihn schließlich zu lesen…. Seite für Seite und Wort für Wort. Ozekis Geschichte hat mich in einen Zustand der „Sein-Zeit“ versetzt: Jeder Augenblick wird zum kostbaren Geschenk des Universums. Doch weil jedes Buch irgendwann endet, bewege ich mich unweigerlich auf die letzten Sätze zu, empfinde Angst und Trauer. Angst vor einem möglicherweise nicht positiven Ende. Trauer, dass es dann endgültig vorbei ist. Doch beide Gefühle verfliegen, überwiegt doch das Glück, eine so außergewöhnliche Story gelesen zu haben. Und ich kann sie immer wieder lesen, wenn ich mag! Ähnlich wie mir mit Ruth Ozekis Roman ging es Mara von Buzzaldrins Bücher

Und jetzt stelle ich mir vor, ICH hätte Naokos Tagebuch am Strand gefunden. Zwischen Seetang und Muscheln verborgen. Ich würde anfangen zu lesen und der Ich-Erzählerin dabei so nah kommen, wie man den Gedanken eines anderen nur nah kommen kann. Auf magische Weise wären wir untrennbar miteinander verbunden. Ich glaube, Nao (gesprochen wie das englische now) meint genau diese Magie, wenn sie am Beginn ihres Tagebuchs zu einer unbekannten Leserin in der Zukunft spricht:

„Hallo! Ich heiße Nao, und ich bin Sein-Zeit, ich bin Sein und ich bin Zeit. Weißt du, was das ist? Wenn du einen Moment Zeit hast, erzähl ich es dir … Ich sitze gerade in einem französischen Dienstmädchencafé in Akiba Electricity Town und höre ein trauriges Chanson, das irgendwann in deiner Vergangenheit spielt, die zugleich meine Gegenwart ist, schreibe dies und mache mir Gedanken über dich, irgendwann in meiner Zukunft. Und wenn du das hier liest, machst du dir vielleicht jetzt auch Gedanken über mich. Du machst dir Gedanken über mich. Ich mache mir Gedanken über dich.“ (S.9)

Über magische Geheimnisse dieser Art, aber auch über ganz reale Probleme philosophiert das in Tokio lebende Mädchen Naoko Yasutani. Besonders liebevoll spricht Nao von der geliebten Urgroßmutter Jiko, die als Nonne in einem zen-buddhistischen Kloster lebt und bereits 104 Jahre alt ist! Von Jiko lernt Nao, Probleme durch richtiges Atmen anzugehen. Sie lernt, wie man meditiert und wie man jeden Augenblick im Jetzt lebt. All ihre Gedanken schreibt Nao in ein geheimnisvolles rotes Tagebuch mit dem Aufdruck von Marcel Prousts Roman „À la recherche du temps perdu“.

Tagebuch 025

Dieses rote Tagebuch, geschützt durch eine Plastiktüte, findet Ruth am Strand einer kanadischen Pazifikinsel. Sie fragt sich, wie das Buch hierherkam. Ist es erstes Schwemmgut aus Japan vom Tsunami? Sie beginnt zu lesen. Erst zögerlich, dann wie gebannt. Schulmädchenprobleme, Mobbing an der Junior-Highschool. Ein arbeitsloser Vater, der die Wohnung kaum noch verlässt. Eine depressive Mutter, die – blass und schön – gern Quallen mit langen Tentakeln im städtischen Aquarium beobachtet.  Ein Großvater, der im zweiten Weltkrieg als Kamikazekrieger gestorben ist. Naos Erzählton klingt heiter und naiv. Obwohl sie nicht immer heiter/fröhlich und schon gar nicht naiv ist. Ich glaube, sie ist einfach unglaublich beherrscht. Denn manchmal schlägt dieser lockere Erzählton um in einen explosionsartigen Sturm aus Wut und Schmerz. Es folgen Geständnisse, einer wuchtigen Tsunamiwelle gleich. Doch genauso schnell wie sie sich entrollt, glättet diese Welle der Wut sich und Nao geht wieder über zu ihrem absolut liebenswerten frechen Schulmädchenton.

Für mich hätte der Roman gern 1000 Seiten haben können. Naokos Geschichte hat mich einfach umgehauen. Sie hat mich tagelang begleitet, mich tief berührt. Und eigentlich hat sie mich auch inspiriert. Denn es beeindruckt mich sehr, wie Nao sich dank der Zen-Weisheiten ihrer Großmutter verändert. Doch ist das nur  der eine Teil des Buches, denn parallel zu Naokos Tagebuchnotizen, erlebt man Ruth. Deren Leben sich ebenfalls verändert. Zwei starke, unvergessliche Charaktere und eine Fülle von neuen Erkenntnissen. Und wer jetzt richtig neugierig geworden ist auf Ruth Ozeki, die selbst Zen-Priesterin, Autorin und Filmregisseurin ist, der schaut mal auf ihre website:  Ruth Ozeki . Ganz besonders lohnt sich der Trailer zum Roman –

Ruth Ozeki. Geschichte für einen Augenblick. S.Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2014. 559 Seiten