Freundschaft bedeutete, sich geehrt zu fühlen …

yanagihara_portrat… dass man einen anderen in seiner größten Verzweiflung auffangen durfte, und zu wissen, dass man selbst in seiner Gegenwart verzweifelt sein durfte (Seite 303).

Yanagiharas Roman ist ja ein ganz großes Buch über Freundschaft, ein Buch über das man mit guten Freunden reden will (und sollte). Ich möchte Euch daher an dieser Stelle ein Gespräch mit zwei befreundeten Buchhändlerinnen empfehlen. Maria von der Buchhandlung ocelot, die Klappentexterin und ich spürten, ohne dieses gemeinsame Reden funktioniert Yanagiharas Roman einfach nicht.  Hat das Lesen des Buches uns 100 % glücklich gemacht? Ist es eine Story mit Hoffnung auf ein Happy End? Wieviel Schmerz darf eine Autorin ihren Lesern zumuten? Wir  waren uns nicht immer einig. Ganz besonders, als es um den Schmerz und die Düsternis in der Story ging. Maria sagt in dem Gespräch sogar, ich habe das Buch einmal entsetzt gegen die Wand gepfeffert, ich glaube, es löst in vielen Leuten was Tiefes aus. Stimmt schon – manchmal war auch ich verzweifelt, brauchte ein Glas Wein oder einen langen Spaziergang, um Judes Geschichte weiter lesen zu können.

Einig waren wir uns allerdings darin – es ist ein ganz großes Buch, möglicherweise DAS Buch des Jahres. Und ganz sicher ein Buch, über das alle sprechen wollen, die es lesen. Nachzulesen im Literarischen Talk.

Von mir gibt es hier noch ein paar Lese-Eindrücke zu Ein wenig Leben, dessen ersten 600 Seiten ich an vier Tagen in Ferch am Schwielowsee lesen konnte. Ein großes Dankeschön an Hanser Literaturverlage, dass ich zum Lese-Retreat eingeladen wurde. Vier Tage im November. In totaler Stille. Das war unglaublich. War es einsam? Ganz sicher nicht,  denn wie kann es mit dem richtigen Buch einsam sein?

yanagihara_ein_wenig_leben_Tag 1: Begeistert! Zweifelsfrei nimmt auch die Stadt New York neben den vier Freunden Jude, Willem, Malcolm und JB einen ganz wichtigen Platz in diesem Roman ein. Manhattan, Brooklyn, Queens, die Lispenard Street, die Fifth Avenue, der Central Park – Orte, die immer gegenwärtig sind. So konnte ich mich mit den vier Freunden wunderbar wegträumen in eine Stadt, die ich bisher nur aus Filmen und Büchern kenne, nach der ich mich so sehr sehne.

Tag 2: Verzaubert! Die vier Jungs haben sich in mein Herz geschlichen und werden dort für lange Zeit bleiben! Jude ist voll düsterer Geheimnisse, welche Kapitel für Kapitel enthüllt werden – wie in einem rückwärts gedrehten Film. Bis zurück in seine Kindheit.

yanagihara_weinTag 3: Verwirrt! Wieviel Schmerz und Demütigung Jude in seinem Leben ertragen musste! Manchmal lief es mir kalt den Rücken runter. Das alles war doch schlimm genug. Fast unerträglich fand ich, welchen unfassbaren Schmerz er sich dann als Mann in seiner Verzweiflung weiterhin antut. Ich wollte Andy, Harold und Willem anschreien, ob mal endlich jemand Jude in eine Klinik sperren kann! Wissend, dass man einen Menschen mit so Riesenproblemen niemals zwingen kann, in eine Klinik zu gehen oder eine Therapie zu machen, wenn derjenige es nicht selbst wünscht. Dass man ohnmächtig zuschauen muss, wie ein geliebter Mensch sich seelisch vernichtet. Der Wunsch, dieses Leid möge enden, wird übermächtig, doch aufhören mit Lesen? Absolut unmöglich.

Tag 4: Verstört! Ich frage ich mich, wohin das alles noch führt mit Jude. Werde ich das weiter aushalten können? Kann es ein Happy End geben? Und warum muss Yanagihara das Schreckliche, das Unerträgliche wieder und wieder beschreiben? Es geradezu beschwören?

Beendet habe ich den Roman erst viele Tage später. Darüber geredet habe ich bisher viel. Dank unzähliger Gespräche mit FreundInnen und KollegInnen habe ich mich schließlich versöhnt – mit dem Buch, mit seiner Autorin Hanya Yanagihara und auch mit dem Schicksal von Jude und seinen Freunden. Ausführliche Besprechungen findet ihr bereits bei leseschatzletteratura und Novellieren.

Hanya Yanagihara. Ein wenig Leben. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin, 2017. Foto Buchcover von Peter Hujar. 958 Seiten. 28,- €

 

14 Antworten zu “Freundschaft bedeutete, sich geehrt zu fühlen …

  1. Vielen Dank für die Verlinkung! Und auch für das Sprechen über den Roman, das sehr aufschlussreich für mich war. Ein großes Buch, da sind wir uns ja einig.

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    • Ja, das Gespräch hat wirklich viel Spaß gemacht.
      Aber dein Text zum Buch und das darüber reden/schreiben mit dir gestern hat dann auch noch einen Teil zu meiner Versöhnung beigetragen! Ein großes Buch, ja!
      Und auch ich bin schon ganz neugierig auf ihren anderen Roman – den es vorerst leider nur in Englisch gibt. Wirst du ihn im Original lesen? Ich werde wohl auf die Übersetzung warten.
      Schöne Grüße!

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      • Das wäre mal wieder eine Gelegenheit, endlich wieder auf englisch zu lesen 🙂 Aber vermutlich werde ich auch eher die Übersetzung lesen. Viele Grüße zurück!

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  2. Vielen Dank für die Verlinkung!
    Liebe Grüße, Hauke

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  3. Pingback: Hanya Yanagihara: „Ein wenig Leben“ | leseschatz

  4. Das war mein Buch des Jahres 2016, ich habe es im Original gelesen und hatte Befürchtungen, dass das Buch nicht in deutscher Übersetzung erscheinen würde, weil ihr ebenfalls toller Vorgängerroman nicht in Deutschland erschien. Aber ich bin sehr froh, dass es das Buch jetzt gibt, denn selten hat mich ein Roman derartig emotional gepackt.

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    • Vielen Dank für dein tolles Feedback. Ich hoffe sehr, dass Hanser Berlin auch die Rechte für Yanagiharas ersten Roman hat! Denn auf den bin ich nun auch sehr gespannt. Ganz besonders, wenn ich höre, dass Leser ihn bereits kennen und ebenfalls gut finden.
      Schöne Grüße

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  5. Pingback: Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara: Drei Buchhändlerinnen im literarischen Talk. | Klappentexterin

  6. Liebe Masuko,
    jetzt habe auch ich dieses großartige Buch zu Ende gelesen und bin tief beeindruckt. Es ist schon so viel darüber geschrieben worden und alles trifft irgendwie zu. Ein Buch das viel hinterlässt und sicher noch lange in mir arbeiten wird.
    Ab jetzt widme ich mich dem Auster. Hast Du schon damit begonnen?
    LG
    lesesilly

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    • Liebe lesesilly,
      ging es dir auch so, dass du dann irgendwie erleichtert warst, dass die Story endet? Oder hättest du gern noch viel mehr gelesen?
      Mit Paul Auster warte ich noch ein bisschen. Ich lese gerade Bücher mit max. 300 Seiten.
      Liebe Grüße, masuko

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  7. Du hast Recht. Ich war auch froh als die Geschichte zu Ende ging. Und ich dachte mir auch, dass es nicht sehr gut ausgehen wird. Aber ich bin trotzdem mit dem Ende zufrieden und habe tief ausgeatmet als ich das Buch zuklappte.
    Welche schönen Bücher liest Du denn zur Zeit?

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    • Ein bisschen hier, ein bisschen da. Es fällt mir momentan schwer, ein Buch zu finden, was mich echt packt.
      Fatma Aydemirs „Ellbogen“ hatte das vor ein paar Tagen geschafft.
      Es könnte sein, dass „Das Leben nach Boo“ von Neil Smith mein neues Lieblingsbuch wird. Da bin ich gerade richtig drin in der Story. Und es begeistert mich immerhin über die magischen 50 Seiten hinaus (wenn es bis Seite 50 nicht Klick macht, lege ich ein Buch meist wieder weg). Ein gutes Zeichen!
      Und du? Liest du jetzt Paul Auster?
      Liebe Grüße

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  8. Ich fahre morgen für eine Woche in den Skiurlaub und werde den Auster auf alle Fälle einpacken. Ob ich ihn anfangen werde weiß ich noch nicht. Schließlich wandern ja auch noch ein paar andere Bücher mit. Ich muss es von der Stimmung abhängig machen.
    Dir wünsche ich ein schönes Wochenende.
    Liebe Grüße

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