Jean-Luc Seigle. Der Gedanke an das Glück und an das Ende

seigle, glück Obwohl niemand in seiner Familie je ein Buch zur Hand genommen hat, packt den 10jährige Gilles die Leidenschaft für Bücher, verbindet er mit dem Lesen ein Gefühl von Glück. Dieser  Eindruck verstärkt sich dadurch, dass er schon seit einiger Zeit den weißhaarigen Nachbarn Antoine beobachtet. Dieser tritt jeden Morgen um 9 Uhr mit einem Ausdruck tiefsten Glücks im Gesicht aus seinem Haus, um in einem Buch zu lesen.

Vater Albert erkennt in der Leidenschaft seines Sohnes für Bücher die Chance, Gilles‘ Rechtschreibung zu verbessern. Seine Wahl fällt auf jenen Antoine, einen ehemaligen Lehrer. Der ist überrascht und hocherfreut, dass Gilles bereits Balzac liest. Eugénie Grandet! Ob ihm die langen, oft komplizierten Sätze keine Angst machen würden, fragt er. Nein, antwortet Gilles. Er würde es lieben, den verschachtelten Sätzen – verschlungenen Pfaden gleich – zu folgen.

Und dann schaut der Junge sich um … Büchertürme! Ungeordnet stapeln sie sich auf Tischen und am Boden: Bücher aller Sorten. Ihn überkommt ein Zittern, jedoch nicht wegen Monsieur Antoine und all der Bücher. Nein, es ist die Güte seines Vaters Albert, die ihn plötzlich überwältigt. Denn der hat den Jungen hierher geführt… Der melancholische Albert ist es schließlich auch, dem meine größte Symphatie gehört. Erst viel später erfahre ich, was es mit seiner Depression im Zusammenhang mit der Maginot-Linie im Zweiten Weltkrieg auf sich hat.

Zentrum der Geschichte, die fast ausschließlich im Garten und im Haus der Familie spielt, ist allerdings die Anschaffung des ersten Fernsehers in jenem heißen Juli 1961. Eine Kriegsreportage würde in einem Interview Sohn Henri zeigen, der in Algerien kämpft. Alles dreht sich um dieses Ereignis. Die Verwandschaft kommt zu Besuch, der Postbote Paul taucht auf und die Nachbarin kommt zum Kaffeeschwatz. Doch alle Fröhlichkeit in diesem Haus täuscht. Diese Familie ist auch nur eine ganz gewöhnliche Familie. Vieles wird verschwiegen, übergangen oder stillschweigend akzeptiert. Die alte kranke Großmutter genauso, wie der vom Krieg traumatisierte Vater oder die Mutter Susanne, die sich für einen anderen Mann schön macht.

Seigle wandert von Figur zu Figur, so dass ich mal in Susannes und dann wieder in Alberts oder in Gilles‘ Kopf bin. Abwechselnd sehe, fühle, schmecke ich mit ihnen und entdecke wunde Punkte –

Von all diesen Dingen erzählt Seigle in einer ganz leichten Art, geht dabei jedoch in die Tiefe, lotet die Stimmungen seiner empfindsamen Figuren aufs Feinste aus. Viele Sätze lese ich mehrmals. Ich verweile. Hole tief Luft, gehe zurück, streife mit meinen Augen Wort für Wort. Meine innere Stimme mahnt: Langsam, langsam! Es ist nur ein schmales Buch. Genieße dein Glück! Und, ja – genau so ist es: Der Roman weckt dieses ganz besondere Glücksgefühl in mir. Ich fühle mich, wie der kleine Junge mit seinem Balzac-Roman. Perfekter Inhalt, klare und ausdrucksstarke Sprache, unvergessliche Figuren – alles vereint in allerschönster Harmonie.

Eine wundervolle Rezension zum Buch findet Ihr auch bei der Klappentexterin

Jean-Luc Seigle. Der Gedanke an das Glück und an das Ende. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Verlag C.H. Beck 2014. 220 Seiten. 18,95 €

11 Antworten zu “Jean-Luc Seigle. Der Gedanke an das Glück und an das Ende

  1. Liebe Masuko,
    dieses Buch scheint ja ein kleines „Meisterwerk“ zu sein. Schon die Rezension bei der Klappentexterin hat mich neugierig gemacht und Du hast mich jetzt vollkommen überzeugt. Ich werde es auf alle Fälle lesen und freue mich schon sehr darauf. Ein schönes Wochenende!
    LG
    lesesilly

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    • Ja, darin waren die Klappentexterin und ich uns irgendwie komplett einig – es macht glücklich! Mich hatte schon das Cover sehr neugierig gemacht – ich finde es wunderschön.
      Ich wünsche dir auch ein schönes Wochenende, liebe Leselilly, Masuko

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  2. Bücher über die Liebe zu Büchern sind doch eine ganz wunderbare Sache.

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  3. Ein tiefer Seufzer geht gerade durch mich hindurch, liebe masuko. Ich danke dir für diese schöne Besprechung über dieses schöne Buch und deinen Link zu meiner kleinen Kurzrezension.

    Ganz liebe Grüße,
    Klappentexterin

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  4. Ja, als ich deine Rezension ein zweites Mal las, entdeckte ich – uns haben irgendwie ganz ähnliche Dinge berührt. Seigle hat uns ein kleines Leseglück geschenkt.
    Alles Liebe,
    masuko

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  5. schlecht, liebe Masuko, ganz schlecht! Schon wieder so ein Buch das gelesen werden muss. Wo soll das bloß hinführen? Ach so, ins Paradies und in die Hölle der Fantasie. Großartig, ganz großartig. Kommt auf die Liste.
    Liebe Grüsse
    Kai

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  6. Liebe Masuko,
    noch so eine tolle Rezension, deren Ruf ich unbedingt folgen musste – wie schon bei „Lucky Newman“. Und ich habe es wahrlich nicht bereut!

    Ich darf deine Worte zitieren:
    „Perfekter Inhalt, klare und ausdrucksstarke Sprache, unvergessliche Figuren – alles vereint in allerschönster Harmonie.“

    Es ist wahr, ich kann dir absolut zustimmen.

    Ich habe dieses Buch gestern zu lesen begonnen und auch dieses konnte ich nicht aus der Hand legen – auch den darin erwähnten Roman von Balsac: Eugénie Grandet – werde ich demnächst wieder in die Hände nehmen und nochmals lesen; diese schöne Geschichte von Jean-Luc Seigle drängt mich einfach dazu, es zu tun.

    „Der Gedanke an das Glück und an das Ende“ ist wieder einmal ein wundervolles Buch, das mich sehr berührt, bereichert und beeindruckt hat, wie „Lucky Newman“ und ich musste heute wieder eine halbe Stunde des reglosen Nachdenkens in meiner Leseecke in Kauf nehmen, als ich das Buch zugeklappt hatte.
    Ich bin froh deinen Blog entdeckt zu haben und freue mich auf weitere „Buchschätze“ von dir! Ich danke dir vom Herzen für deine Arbeit hier. Bitte mach weiter so, damit wir Leser noch viele wahre Lieteratur-Perlen bei dir finden können!
    Liebe Grüße
    Ida

    PS: Ja, ich gebe zu, im Lesen war ich immer schon recht flott unterwegs – wenn mich ein Buch fesselt, dann lasse ich alles andere liegen :-))

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    • Liebe Ida,
      ich bekomme direkt Lust, das Buch nochmal zu lesen, weil ich mich dank deiner schönen Worte wieder an das Gefühl erinnere, das der Roman beim Lesen auslöste.
      Ganz lieben Dank dafür!
      Ein wundervolles Wochenende wünsche ich dir, Masuko.

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      • Ja, es ist das schöne Gefühl der Liebe, das man beim Lesen sehr gut nachempfinden kann und die Erkenntnis, was man aus Liebe für einen Menschen zu tun in der Lage ist. ich möchte hier nicht näher darauf eingehen, weil ich zu viel verraten würde für deine Blogabonnenten, die dieses wunderbares Buch noch nicht gelesen haben. Ich hoffe nun, dass wir anderen Lesern mit unserer Kommunikation hier noch mehr Lust darauf machen. Aber du wirst schon wissen, was ich mit meiner Andeutung meine – wir haben dieses Buch ja schon gelesen und konnten mit den Protagonisten mitfühlen, uns in sie hineinversetzen; sie hatten uns beide mit ihrer Geschichte gleichermaßen berührt.
        Und ich hoffe auch, dass dieses Buch noch von sehr vielen Lesern entdeckt wird! Genauso, wie du es bereits geschrieben hattest: in diesem Buch stimmt einfach alles, es ist stimmig, harmonisch und tiefsinnig – es regt zum Nachdenken an. Genau mein Geschmack!
        Also jene, die sich von oberflächlicher Alltagsliteratur gelangweilt fühlen, weil ihr Geist nach etwas Anspruchsvollerem dürstet, sollten bei diesem Buch unbedingt zugreifen. Damit ist von meiner Seite alles gesagt; mehr wird nicht verraten.

        Auch dir ein schönes Wochenende & liebe Grüße
        Ida

        PS:
        Übrigens: meine nächste Lektüre stammt auch aus den Buchtipps in deinem Blog: Anthony Doerr, Alles Licht, das wir nicht sehen.
        Ich werde heute Abend noch mit dem Lesen beginnen und bin schon voller Erwartung auf eine wunderschöne Geschichte!

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