Jean-Philippe Blondel. 6 Uhr 41

blondel, 6 uhr 49Wenn ein Mann nach der Abfahrt des Zuges das Abteil betritt und sich auf den einzig freien Platz neben eine Frau setzt, so ist das zunächst eine alltägliche Situation. Wenn sie aber daraufhin in sein Gesicht schaut und denkt Allmächtiger!, dann verspricht das möglicherweise eine gute Story. Und, ja! Es ist eine gute Story! Philippe scheint Cécile nämlich nicht nur bekannt, sondern auf eine seltsame Art auch vertraut zu sein. Deshalb möchte sie am liebsten aufspringen, flüchten und einen neuen Platz suchen! Sie ist so eine Frau, sie ist „der Inbegriff einer schwierigen Kundin“. Während sie noch, Ach du Schande, Philippe Leduc!, denkt …

… packt ihn ein leichter Schwindel, fühlt er sich wie in einem Roman aus dem 19. Jahrhundert und denkt er zutiefst schockiert: Cécile Duffaut! Er hofft, sie möge ihn nicht erkennen, immerhin  ist es 30 Jahre her, dass sie das letzte Mal miteinander geredet haben. Ganz anders als Cécile ist Philippe ein ewiger Zögerer. Er würde niemals einen anderen  Sitzplatz wählen, er bringt nicht einmal den Mut auf, sie anzusprechen. Stoisch erträgt er die Situation.

Während die Innen-Perspektiven der Beiden wechseln, erfahre ich, dass es tatsächlich eine gemeinsame Geschichte zwischen Cécile und Philippe gegeben hat und möglicherweise in nächster Zeit geben könnte, wenn …

Stephan Masuck. Diesellokomotive

Stephan Masuck. Diesellokomotive

… er mehr Mut hätte. Philippe träumt von einer gemeinsamen Zukunft, während die Vergangenheit vor ihm abläuft. Auch im Kopf von Cécile springen die Gedanken zwischen Gestern und Morgen hin und her. Abwechselnd geplagt von Zweifeln und Hoffnung, stellt sie sich vor, sie würde einer Beziehung eine Chance geben. Aber was, wenn sie dadurch eine andere Chance verpassen würde? Gedanken, die Schienensträngen gleich durch diesen kleinen feinen Roman laufen, machen ein Unterbrechen der Geschichte unmöglich. Unermüdlich rattern die Räder über die Gleise. Wie wird es enden? Plötzlich bin ich selbst geplagt von wechselnden Gefühlen zwischen Zweifel und Hoffnung, bin geplagt von Unsicherheit und Unklarheit, dann wieder Zuversicht – wie das eben so ist in der Liebe.

„6 Uhr 41“ ist wirklich eine Liebesgeschichte der besonderen Art. An der Endstation wird nicht nur der Zug im Bahnhof halten, sondern auch die Berg- und Talfahrt der Gefühle von Cécile und Philippe beendet sein. Endlich sind beide im JETZT angekommen. Erst hier auf dem Bahnsteig kann meine brennende Ungeduld beruhigt werden. Einem zarten Pinselstrich gleich, wird ganz zart und verschwommen etwas angedeutet, was mir beinahe entgeht. Positiv oder negativ – das soll an dieser Stelle offen bleiben. Ich atme tief durch, bevor mit dem letzte Satz diese Story endgültig endet.

Jean-Philippe Blondel. 6 Uhr 41. Aus dem Französischen von Anne Braun. Deuticke Verlag 2014. 192 Seiten. 16,90 €

7 Antworten zu “Jean-Philippe Blondel. 6 Uhr 41

  1. buecherliebhaberin

    Hab das Buch letzte Woche in meiner Buchhandlung entdeckt und war sofort neugerig. Schön hier davon zu lesen, vor allem aber weil es sich wohl wirklich lohnt. Ich habe mir gar nicht getraut alles zu lesen, da ich doch Angst hatte zu viel zu erfahren …

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    • Ja, diese Angst kenne ich auch, wenn zu viel verraten wird … Das Besondere ist ja immer die Überraschung. Beim Krimi will man auch nicht vorher wissen, wer der Mörder ist 😉

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  2. Liebe Masuko,

    ich schreibe gerade und nun eine Pause. Wie wunderbar wieder etwas von dir hier zu lesen. Das Buch fiel mir auch in die Hände, aber es überzeugte mich nicht ganz, weil diese Thematik schon in so vielen Filmen usw. aufgegriffen wurde. Es ist dennoch ein gutes, mal lesenswertes Buch.

    Du hast wieder ein Bild von Stephan Masuck. Namentlich seit ihr und auch so sicher verwandt. Dennoch ich fand nicht so viel. Ist er ein Künstler?

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  3. Liebe Gedankenlabyrintherin,
    okay, das Thema des Romans ist vielleicht nicht neu …. aber die wechselnden Innenperspektiven von Cécile und Philippe machten es für mich sehr lesenswert.

    Ja, und dann musste ich beim Lesen immerzu an dieses Schienenbild von Stephan denken. Er hat viele wundervolle Ölbilder hinterlassen. Ich möchte sie auf meinem Blog immer dann mit einbringen, wenn es zum Text passt. Eine eigene Website für ihn und seine Bilder ist aber auch geplant (die Zeit … die Zeit!!). Wir beide waren viele Jahre verheiratet. Und, was sehr traurig ist – er lebt nicht mehr.

    Liebe Grüße, Masuko

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  4. Liebe Masuko,

    ja lesenswert war es dennoch und in der Schreibweise auch schön. Fast zart.

    Nun sitze ich vor deiner Antwort und bin sehr gerührt. Ganz still.
    Ja, so etwas ist traurig und oft fehlt jegliche Beschreibung dafür. Nicht mal in Essays oder Gedichten reichen die Worte.
    Ich sende dir still ein Lachen.

    Ich habe nahezu unzählige Gedichte geschrieben die meinem besten Freund galten. Das eine Gedicht schrieb ich letzte Woche an seinem Todestag. Es handelt von Schienen. „Schienbruch“ Aber nicht im sehr im negativen Sinne. Er starb vor 11 Jahren und ist so unvergessen. Gerade heute schrieb ich auch etwas in meinem Blog hier. Das Bild von Stephan erinnerte mich so sehr daran, weil zu jedem Gedicht passt ja oft auch ein Bild.

    Die Bilder von Stephan gefallen mir. Sie bewegen. Schienen, Züge…Wege spielen immer eine besondere Rolle.

    Masuko, wie lang ist es her?

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