„Am 1. Dezember 2011 stirbt meine Großmutter“, ist einer der ersten Sätze in diesem beeindruckenden Buch, das zugleich aufwühlt und zutiefst berührt. Die Gespräche, die Jana Simon 1998 begonnen hatte (ohne überhaupt eine Veröffentlichung zu planen!) enden 2008. Eigentlich wollte sie nur ein paar Antworten von ihren Großeltern, die noch der Generation angehören, welche aktiv die NS-Zeit, die Zeit der DDR und des Mauerfalls erlebt hat.
Heute ist es fast 2 Jahre her, dass die traurige Nachricht durch die Medien ging, wieder spüre ich meine tiefe Erschütterung über den Tod von Christa Wolf. Deshalb – ein kurzer Besuch auf dem Dorotheestädtischen Friedhof. In der Nähe von Thomas Brasch finde ich ihr Grab, an dessen Ende ein großer weißer Marmorblock steht. Ganz schlicht. Darauf ihr Name und zwei Daten. Zwischen diesen Daten liegen 82 Jahre …. Ihre Romane haben mich viele Jahre meines Lebens begleitet. Ich habe mich durch „Kindheitsmuster“ durchgearbeitet. Habe „Kein Ort. Nirgends“, „Nachdenken über Christa T.“ und „Kassandra“ verschlungen.
Zurück zu Jana Simons Erinnerungsbuch. Private Geschichten wechseln mit reinen Fakten. Die Autorin stellt provokante aber auch sehr liebevolle Fragen. Wir erfahren von den Anfängen der DDR, als die Hoffnung auf ein besseres Deutschland unendlich groß war. Und wir erfahren von der beginnenden Resignation nach 1953. Von der Hoffnungslosigkeit seit 1968. Immer, wenn ein Stück deutscher Geschichte besprochen wird, kommt als Beispiel ein Buch. So hat Christa Wolf ihre Erfahrungen von Krieg und Vertreibung verarbeitet in „Kindheitsmuster“. „Kein Ort. Nirgends“ wiederum war Ausdruck ihrer Gedanken nach dem Prager Frühling. In dieser Zeit wird sie sehr krank, ihr Blutdruck ist viel zu hoch. Wie ihre Romanfigur Christa T. leidet auch sie an der DDR. Sie nimmt diesen Schmerz als etwas Schicksalhaftes an. Fortgehen? Für Christa und Gerhard Wolf war das nie eine Alternative. Im Gegenteil. Beide spürten eine Verantwortung. Der Dichter als moralische Instanz.
Auf die Frage, ob ihre Beziehung je bedroht war, geben beide ein klares NEIN! als Antwort. Denn sie haben sich gegenseitig in all den Jahren immer wieder neu inspiriert. So ist es Gerhard, der Christa seit Jahren an die Schöne Kunst und die Lyrik heranführt. Er liest ihr Gedichte vor. Er ist stets der erste kritische Leser ihrer Texte. Und Christa zieht viel Lebensenergie allein aus seiner Gegenwart:
„In den 57 Jahren unserer Ehe stand nie die Frage, ob wir mal auseinandergehen … eigentlich wurde es immer intensiver. Besonders in der DDR-Zeit war ich in große Konflikte verwickelt, und ich weiß nicht, wie ich sie allein hätte bewältigen sollen“ (S. 221)
Manche dieser Konflikte beschreibt sie mit solcher Intensität, dass ich beim Lesen innehalten muß. Verschüttete Erinnerungen sind plötzlich wieder präsent. Für mich war Christa Wolf immer eine unverzagte, mutige Dichterin. Mit ihrer Einstellung, die DDR nicht zu verlassen, hat sie vielen Menschen die Kraft gegeben, ebenfalls zu bleiben. Es mit einer demokratischen Alternative wenigstens zu versuchen. Den Buchtitel finde ich deshalb absolut passend. Inspiriert dazu hat Jana Simon das Gedicht des Lyrikers Paul Fleming „Sei dennoch unverzagt“, welches zu der Trauerfeier im Dezember 2011 gelesen wurde. Und das mit den Worten endet, „Nimm dein Verhängnis an. Lass alles unbereut.“ Christa Wolf wirkte mit ihren mehr als 80 Jahren versöhnt und ohne Reue.
Um sich von ihr ein letztes Mal zu verabschieden, waren damals Hunderte Menschen bei Sturm und Regen auf den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin Mitte gekommen. 2 Jahre später denke ich ganz besonders intensiv an sie, ich nehme den einen oder anderen Roman in die Hand, blättere darin …