Nach Hölle und Paradies möchte ich gedanklich noch ein wenig in den Niederlanden bleiben. Mit Gerbrand Bakkers Oben ist es still, erschienen in Amsterdam 2006. Ich will diesen Roman seit vielen Jahren lesen. Nie aber gab es den richtigen Moment. Stumm und vorwurfsvoll schauen die fünf Schafe auf dem Buchcover mich an, sie scheinen mich schon ewig zu rufen. Ich hatte immer Angst, der Roman sei zu trist, zu düster, und er könnte mich möglicherweise in Trübsinn stürzen. Allein das Cover – so grau und so kalt. Nichts von alldem ist diese Geschichte! Und sie hat mich ganz sicher nicht traurig gemacht. Ganz im Gegenteil. Ich habe mit Gerbrand Bakker einen Autoren entdeckt, von dem ich mehr lesen will und muss!
Auch wenn wir Mai und nicht November haben, passt die Lektüre außerdem perfekt zum Wetter: Es regnet, und der starke Wind hat die letzten Blätter von der Esche geweht. Der November ist nicht mehr eisig und windstill … Die Kühe stehen schon seit zwei Tagen im Stall. Beim Melken herrscht Unruhe (S. 11).
Hier also lebt Helmer van Wonderen, ein etwa 50jähriger Mann mit seinem uralten Vater, welcher einfach nicht sterben kann, auch wenn er das vielleicht gern würde. Denn er ist all dessen so überdrüssig: essen, trinken, waschen, schlafen, wieder aufwachen, … Helmer hat das ebenfalls so satt, dass sein Vater einfach nicht stirbt. Er schafft ihn auf den Dachboden, in ein karg eingerichtetes Zimmer. Und beginnt endlich, ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, an welchem Bakker mich wie eine stille Beobachterin teilhaben lässt. Wenn Helmer geht, um die Kühe zu melken, die Esel zu füttern oder sich ein neues Bett zu kaufen. Wenn er die Wohnung malert, wenn er duscht. Wenn er nach vielen Jahren mal wieder in einen Tabakladen geht, um sich anschließend genussvoll eine Zigarette zu drehen.
Das mag jetzt eintönig und banal klingen. Ist es aber nicht. Denn Bakker lässt mich auch teilhaben an Helmers Gedanken und Erinnerungen –
So gab es einen Zwillingsbruder, den der Vater sehr mochte. Henk. Seit dessen Tod durch einen Autounfall hat sich für Helmer das Gefühl verstärkt, der falsche Sohn zu sein. Er und nicht Henk hätte gehen sollen. Von einem zum nächsten Tag wird er vom Vater gezwungen, sein Studium abzubrechen und auf dem Hof zu helfen.
Verursacht wurde der Unfall damals von Henks Freundin Riet. Als diese sich ca. 20 Jahre später per Brief bei Helmer meldet, weil sie seine Hilfe bräuchte, ist seine Neugier geweckt. Im späteren Verlauf der Geschichte wird Riets Teenagersohn Henk als eine Art Knecht auf dem Hof helfen. Und so werden auch Erinnerungen an den Knecht Jaap wach, welchen der Vater vor vielen Jahren vom Hof gejagt hatte. Hat Helmer diesen Jaap nicht nur bewundert, sondern sogar insgeheim geliebt? Eine Frage, deren Antwort ich erst am Ende der Geschichte finde. Nachdem ich viele Male tief in Helmers Seele und mit seinem Blick über dieses flache stille Land geschaut habe:
Ich liebe die Februarsonne … Kahle Äste im schrägen Sonnenlicht sind schön, graue Schafsrücken im schrägen Sonnenlicht sind schön. Die Nebelkrähe sitzt auf ihrem Ast in der Esche und sieht sich munterer als gewöhnlich um, und es kommen mehr Radler vorbei, als gewöhnlich (S. 193).
Einmal kommen auch zwei Jungs in einem Kanu vorbei und betrachten Helmer, sein Haus und seine zwei Esel. Helmer hört ihre Stimmen. Es beschäftigt ihn lange, was die Jungs gesagt haben, dass all dies so altmodisch aussehen würde. Wie von 1967. Aber, ja! Es wirkt altmodisch, wie Helmer lebt. Aber es wirkt auch beruhigend und entspannend. Wie in der Zeit stehen geblieben. Eine wundervolle Geschichte von Einsamkeit und Stille und Liebe. Und auch davon, dass das Leben einfach großartig sein kann … mit dem richtigen Menschen an deiner Seite.
Gerbrand Bakker. Oben ist es still. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2010. 9. Auflage. 316 Seiten. 9,99 € / auch in der Suhrkamp Taschenbibliothek. Berlin Mai 2017. Gebunden. 12,- €
Ich dachte gleich, das kenne ich doch irgendwoher … aber ja, als Film … http://www.zeit.de/kultur/film/2013-06/film-romanverfilmung-oben-still Der Film ist dunkel aber großartig! Jetzt wo ich diese Buchbeschreibung gelesen habe, weiß ich, dass ich das Buch lesen will. Vielen Dank für den Hinweis. Beste Grüße, Clemens
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Sehr gern. Mir geht es jetzt genau umgekehrt. Ich will unbedingt den Film sehen! Danke für den Link. Man bekommt bei der Rezension gleich Sehnsucht nach den beschriebenen Bildern. Allein diese Kameraeinstellung: „Nebliges Holland, aschenbechergrau, Matsch und Schilf, irgendwo darin ein Hof.“ Wow! In meinen Gedanken sehe ich Jeroen Willems in der Rolle des Helmer …
Schöne Grüße, Jacqueline
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Er ist auf 3sat leider nicht mehr verfügbar, aber als Mini-Trailer noch auf youtube https://www.youtube.com/watch?v=vqFicj0vbmM , kommt sicher nochmal, nochmal beste Grüße!
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Merci!
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Liebe Jacqueline, ich fand beides sehr gut. Den Film konnte ich vor Jahren nicht ansehen, wegen der Düsternis. Aber kürzlich nach „Jasper und sein Knecht“ habe ich es noch einmal versucht und fand ihn sehr gut.
Grüße!
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Liebe Marina, ich kann das gut verstehen. Das war ja auch ewig meine Angst … nun wissen wir es beide besser. „Jasper und sein Knecht“ ist eins meiner nächsten Bücher.
Schöne Grüße, Jacqueline
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Liebe Masuko,
dieser Autor reizt mich auch schon lange. Nachdem meine ehemalige Buchhändlerin so begeistert von ihm gesprochen hat, ist er auf meiner Wunschliste gelandet. Insbesondere „Juni“ hat sie mir sehr empfohlen. Nachdem ich nun Deine ansprechende Rezension gelesen haben, werde ich mir nun doch mal eines der beiden Bücher „vorknöpfen“. Bin gespannt.
Zur Zeit lese ich aber noch „Ellbogen“ und bin sehr begeistert. Die Autorin werde ich nächste Woche in einer Lesung erleben.
Was ist zur Zeit Deine aktuelle Lektüre?
Liebe Grüße
lesesilly
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Liebe lesesilly,
wie spannend ist das denn! Du gehst zu einer Lesung mit Fatma Aydemir? Toll. Ich bin ihr auch schon begegnet und war begeistert von ihrer frischen und unkomplizierten Art. Viel Spaß also nächste Woche.
Ja, Gerbrand Bakker lies mal! Wird dir gefallen, sehr leise, sehr berührend.
Ich beschäftige mich bereits mit den Neuerscheinungen des Herbstes! Als Buchhändlerin bekomme ich jede Menge vorab … darüber kann ich hier aber noch nicht reden.
Wirklich großartig sind aktuell für mich der Barney Norris mit „Hier treffen sich fünf Flüsse“ und Toni Morrison „Gott, hilf dem Kind“ (beide werden heute Abend in der Sendung ‚Literarisches Quartett‘ vorgestellt).
Wunderschöne Grüße, masuko
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