Schlagwort-Archive: Verlag Klaus Wagenbach

Albena Dimitrova. Wiedersehen in Paris

dimitrova_wiedersehen_in_parisSie sind sorglos, sie sind verrückt, sie sind extrem unvorsichtig. Alba und Guéo begegnen sich in einem Sanatorium  im sozialistischen Bulgarien. Was als leise sanfte Sympathie füreinander und als kleine Rauchergemeinschaft mit klugen Gesprächen beginnt, entwickelt sich schnell zu einer Amour fou im doppelten Sinne. Alba ist siebzehn, Guéo etwa fünfundfünfzig und verheiratet. Sie, ein einfaches Mädchen mit einer Amnesie im linken Bein. Er, ein Mitglied des Politbüros Bulgariens zur freiwilligen Elektroschock-Therapie. Elektroschock als Droge, um zu vergessen.

Die 1969 in Bulgarien geborene Albena Dimitrova erzählt in dem kaum 200 Seiten langen Roman von dieser Wahnsinns-Affäre zwischen Alba und Guéo. Sie erzählt auch von Korruption und von Bespitzelung im sozialistischen Bulgarien. Packend und sprachlich radikal reduziert, beschreibt sie die letzten Tage eines untergehenden Systems. Und die wenigen Tage einer ganz großen Liebe. Weiterlesen

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Alan Bennett. Die Souveräne Leserin

bennett, Souveräne LeserinMit einem ganz besonderen Glücksgefühl nehme ich immer wieder mal diesen schmalen roten Leinenband aus dem Wagenbach Verlag in die Hand. Alan Bennett erzählt darin die fiktive (!) Geschichte der Queen of England und ihre Entdeckung der schönen Literatur. Auf britisch-humorige Art beschriebt er, wie das Lesen von Büchern einen Menschen verändern kann.

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Dato Turaschwili. Westflug

Turaschwili, WestflugEin paar junge Leute aus Georgien wollten einfach nur die Freiheit –

Dato Turaschwili, geboren 1966 in Tblissi und einer der bedeutendsten Schriftsteller Georgiens, hat ihre Geschichte aufgeschrieben und damit ein jahrzehntelanges gesellschaftliches Tabu gebrochen. Bis heute ist nicht vollständig aufgeklärt, was damals geschehen ist. Und somit ist „Westflug“ nicht nur spannendes Zeitdokument, sondern auch literarisch erzählte faktenreiche Story, die dank der Fotos im Anhang auf besondere Weise erschüttert und berührt. Nach Nino Haratischwilis Roman „Das achte Leben“ komme ich an „Westflug“ einfach gar nicht vorbei, entdecke Ähnlichkeiten, Überschneidungen. Und bin an einer Stelle der Geschichte gedanklich sogar sofort bei Haratischwilis Kitty im Gefängnis. Wieder bin ich schockiert, wie rücksichtslos und unmenschlich das sowjetische Regime mit den Menschen umging, die nicht ins System passten.

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Michela Murgia. Accabadora – mein Lieblingsbuch aus dem Verlag für wilde Leser

WagenbachKürzlich lese ich den Beitrag „50 jahre und kein bißchen leise“ von der Klappentexterin. Ein Jubiläum ist zu feiern. Wagenbach – der unabhängige Verlag für wilde Leser – feiert Geburtstag. Sofort frage ich mich, welches ist eigentlich mein Lieblingsbuch von allen bisher gelesenen Romanen aus diesem Verlag –

Vielleicht die „Souveräne Leserin“ von Alan Bennett? Es kam damals als dünnes Heftchen mit dem Aufdruck „unkorrigiertes Leseexemplar“ in meine Hände und hat mich dann auf einen Kurztrip nach London begleitet. Dort habe ich es auch gelesen und mich aufs Beste amüsiert über die Queen, die die Welt der Romane entdeckt.  Nie vergesse ich das berauschende Gefühl von jenem Mai 2008, einen außergewöhnlichen Roman in den Händen zu halten. „Die souveräne Leserin“ wurde zum Liebling unzähliger Buchhändler und Leser und hat es damals sogar in die Spiegelbestsellerliste geschafft.

Erstmal weiter …. mein Lieblingsbuch. Ich stehe vor meinem Bücherregal und grüble. Begeisterte mich nicht auch „Gleissendes Glück“ von A.L. Kennedy ganz unglaublich? Und was ist mit „Der Ursprung der Welt“ von Jorge Edwards? Und mit Assani-Razakis „Iman“ und „Wojna“ von Larrue?!

Nein – jetzt bin ich sicher!!! Immer wieder empfohlen und verschenkt, ist es meine über alles geliebte „Accabadora“ von Michela Murgia. Der Roman ist 2010 auf Deutsch erschienen. Murgia erzählt nicht nur eine unvergessliche Geschichte, sondern behandelt elegant und wie nebenbei (auf lediglich 170 Seiten) die drei großen Themen Sterbehilfe, Adoption und Kinderlosigkeit.

Ein wirklich großartiges Buch! Weshalb es auch ein wenig krumm und schief ist, so oft habe ich es seitdem verliehen. Jede meiner Freundinnen sollte unbedingt die Geschichte um die geheimnisvolle Tzia Bonaria lesen. Als Hebamme und Sterbehelferin lebt und arbeitet sie in einem kleinen Dorf auf Sardinien. Da sie selbst kinderlos ist, holt sie sich eines Tages das Mädchen Maria aus einer vielköpfigen Familie in ihr Zuhause. Mit viel Wärme und großer Präzision erzählt Murgia diese archaisch anmutende Story, die ganz zeitlos erzählt ist und so beginnt:

Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen. In dieser zweiten Geburt wurde Maria Listru zum späten Segen für Bonaria Urrai … Maria lächelte, obwohl sie tief im Innnern wußte, das eigentlich Grund zum Weinen bestanden hätte.

Beim weiteren Stöbern fällt mir nicht nur ein Korkenzieher sondern außerdem ein fast 50 Jahre altes Heftchen aus dem Verlag Klaus Wagenbach in die Hände: „Das schwarze Brett 2. Almanach 1966“. 64 Seiten. Meine Mutter hatte in den 60er Jahren als Buchhändlerin gearbeitet und es mir irgendwann geschenkt. Ehrfürchtig und ungläubig blättere ich darin, reise in der Zeit. Damals konnte niemand auch nur ahnen, dass wir dieser Tage ein 50jähriges Jubiläum zu feiern haben. Auf der ersten Seite (und im 2. Jahr des Verlages) schreibt Klaus Wagenbach:

„Die künftige Arbeit des Verlages hängt sehr davon ab, dass die jetzige bekannt wird“ – so steht es auf den Karten, die jedem Buch des Verlages beiliegen … Die Freunde unter Lesern und Buchhändlern haben entschieden dabei geholfen, dem Verlag die drei übernommenen Risiken – hohes Autorenhonorar, niedriger Ladenpreis, kein Fremdkapital – zu erleichtern. Sie widerlegten die Voraussagen, der Verlag müsse entweder den Maßstab literarischer Qualität oder seine Unabhängigkeit aufgeben … Zahlreiche Freunde haben ihre Hilfe angeboten … kaufen Sie hie und da ein Quartheft, das ist Hilfe genug, eine sehr entscheidende Hilfe.

Wagenbach

Viele Leser haben seitdem Wagenbachs Bücher gekauft und gelesen und damit möglich gemacht, dass der Verlag überleben konnte – 50 Jahre unabhängig überleben konnte. Darauf trinke ich einen Schluck Wein, entkorkt (ganz klar!) mit meinem „wilden“ Wagenbach-Korkenzieher und freue mich auf viele neue Bücher. Beste Wünsche an das gesamte Verlags-Team!

Mein Lieblingsbuch: Michela Murgia. Accabadora. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Verlag Klaus Wagenbach Berlin. 2010. 170 Seiten (auch als TB im Deutschen Taschenbuch Verlag 2011)

 

 

 

 

Arthur Larrue. Wojna. Aus dem Französischen von Max Stadler

larrue-wojna„Wojna bedeutet Krieg auf Russisch. Doch der fragliche Krieg findet nicht nur in Rußland statt. Er wird überall geführt, und man muss ihn wahrnehmen. Ich habe 91 Tage inmitten dieses Krieges gelebt unter Bedingungen, die den nachfolgend beschriebenen nicht unähnlich sind“ –

schreibt Arthur Larrue (geb. 1984 in Paris) in seinem Vorwort.

Die Zeit, die Larrue mit der anarchistischen Künstlergruppe Wojna im Untergrund verbringt, inspiriert ihn zu diesem absurd witzigen und sehr wütenden Roman. Er verliert allerdings nach der Veröffentlichung nicht nur seine Stelle an der Universität (hier hatte Larrue vier Jahre lang gelehrt), sondern sein Visum gleich dazu.

Das Motto von Wojna: die Welt umstürzen oder auskotzen. Statt Furcht und Respekt in Sankt Petersburg, will Wojna, dass man über den Staat lacht – und sei die Ursache noch so vulgär. Die wohl spektakulärste Aktion – ein auf die Zugbrücke vor dem Hauptsitz des FSB-Geheimdienstes gemalter 65 Meter hoher Phallus – wird zum Thema des Romans (hier ein ZDF-Kommentar zu dieser und zu weiteren Aktionen von Wojna, gesehen auf youtube ).

Aus anfänglicher Performance-Kunst wird politischer Widerstand gegen die bestehende Regierung. Die Mitglieder von Wojna werden gesucht. Logische Konsequenz: sie gehen in den Untergrund. Und das heißt für Wojna tatsächlich versteckt und abgeschnitten von jeder Kommunikationsform zu leben. Kein Internet. Keine Handys. Larrue findet Kontakt zu ihnen, so wie der anonyme Ich-Erzähler im Roman. Dieser fährt mit dem Taxi durch Sankt Petersburg, um für ein paar Tage in der Wohnung seiner Freundin Tamriko Bamriko zu wohnen. Als er die Wohnung betritt, muss er feststellen, dass er nicht allein ist. Er vernimmt Stimmen aus der Küche:

„Und hier erscheinen sie auf der Bildfläche. Sie aßen zu viert an einem Tisch und erinnerten an große fleischfressende Raubtiere, die sich um ein Stück Aas versammelt hatten … Sie hatten sich Kampfnamen zugelegt, die ihre wichtigsten Charakterzüge unterstrichen. Oleg der Dieb saß der Tür gegenüber … Da war Kosa, eine hübsche Frau mit abgeknabberten Nägeln und bleiernem Teint … Da war Leonid der Irre, der nichts aß und der sich, hinter einem unglaublichen Bart versteckt, merkwürdig still verhielt … Und schließlich war da noch ihr Sohn Kasper, kaum ein Jahr alt.“ (S. 22)

Wojna hat sicher hohen Kultstatus, doch ist nach wie vor umstritten, ob ihre Aktionen als „Kunst“ anzusehen sind. Und nicht jeder findet ihre anarchistischen Aktionen grundlos gut. Zwei entscheidende Gegenspieler hat Wojna in diesem Roman: Anna Zobonka und Sergeant Komarow. Obwohl auf die Gruppe angesetzt, symphatisiert Komarow im tiefsten Herzen mit Wojna. Letztendlich jedoch bleibt er ein Diener des Staates. Genau wie die alte Nachbarin Anna Zobonka, die den ganzen Tag an ihrem Bakelit-Telefon sitzt und alles beobachtet, was im Haus geschieht. Um ihre winzige Rente auszugleichen, dealt sie mit Marihuana, das sie gegen die Schmerzen in ihren alternden Knochen auch ganz gern selbst mal raucht. Verbittert vom Leben, erfüllt von dumpfem Groll und rasender Wut, gehört sie zu jenen, die nach einem Ventil für ihren verletzten Stolz suchen.

„Dabei hatte Anna Zobonka schon Gefallen gefunden am sowjetischen Stolz … Man wollte alles neu machen, die Flüsse, Meere, Länder, Städte umbenennen, die Liebe neu erfinden, die Religion abschaffen. Das war zusammengekracht. Man hatte sich übernommen. Aber nie gab es in der Geschichte der Menschheit ein gewagteres Projekt. Ja, diese UdSSR hatte schon Kaliber. Und trotzdem. Am Ende fiel der Vorhang ebenso rasch und leicht wie bei einer Theatervorstellung … Das russische Volk hatte sich ergeben, und der Stolz der Menschen war tief verletzt, ihr Selbstwertgefühl dahin.“ (S.75)

Larrues Figuren erinnern an Romane großer russischer Dichter. Sie sind schrullig und kauzig und unvergesslich. Besonders in Komarow und in Anna spiegelt sich auf wunderbare Weise die russische Seele. Es ist so ein bestimmter Humor, ein tragischer Witz. Man ist beiden ganz nah, spürt ihre Ängste, ihre Verzweiflung, ihre Wut. Irgendwann wird die Story so spannend wie ein Thriller, um dann radikal abrupt und ungewöhnlich zu enden.

Arthur Larrue. Wojna. Verlag Klaus Wagenbach 2014. 103 Seiten

 

 

 

 

Lesung mit dem kanadischen Autor Ryad Assani-Razaki

Ryad Assani-RazakiIm Heimathafen Neukölln war der Autor des Romans „Iman“ heute zu Gast. Die Veranstaltung, organisiert vom Verlag Klaus Wagenbach, war ausverkauft. Und – klar, dass ich auch dort war, hatte mich doch der Roman bereits am Jahresanfang sehr fasziniert (kann man nachlesen unter meiner Rezension zu Assani-Razaki: Iman). Nun wollte ich den Autor selbst erleben. Was für ein Mensch steht hinter der bewegenden Geschichte von Toumani, Iman und Alissa? Ist es eine autobiographische Story oder reine Fiktion? Wird Assani-Razaki noch mehr Romane schreiben?

Auf der Bühne saß ein absolut symphatischer, sehr kluger und irgendwie bescheiden wirkender Autor (das obige Foto ist nicht aktuell aus dem Heimathafen). An seiner Seite die Übersetzerin Sonja Finck und die Journalistin Katharina Teutsch. Die deutschen Passagen des Buches wurden hervorragend gelesen von Denis Abraham, der sich mit seiner Stimme und seiner Mimik vollkommen in die Rollen von Toumani und Alissa eingefühlt und sie wunderbar interpretiert hat. Da vorne auf der Bühne sprach Toumani! Ja! Jetzt wußte ich auch wieder, was ich an dem Roman so gemocht habe: die Beschreibung der Innenwelten der Figuren, die wechselnden Sichtweisen von Toumani, Alissa oder der alten Hadscha – das ist große Erzählkunst. Man will mehr von diesem Autor. Auch wenn die Frage nach einem weiteren Roman nicht klar mit Ja beantwortet wurde, so sagte Assani-Razaki doch, dass er weiterschreiben möchte (neben seinem Beruf als Programmierer). Schreiben aus Leidenschaft, nicht um Geld zu verdienen! Er sammele Eindrücke und Ideen.

„Iman“ ist eine fiktive Story. Die Figuren sind aus Geschichten, die ihm erzählt wurden entstanden, weder Toumani noch Alissa gibt es in der Realität. Auch hat Assani-Razaki nie auf der Straße leben müssen, er ist in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen. Der Grund seiner Emigration im Jahr 1999 war das Studium. Benin ist ein sehr armes Land – es gibt kaum Chancen für eine Zukunft. Will man studieren, muss man das Land verlassen.

Ist Europa für die Menschen Afrikas ein Sehnsuchtsort? Was zieht sie nach Europa? Was treibt sie zu Hunderten auf die Boote und ins Ungewisse? Ohne verallgemeinern zu wollen, betont Assani-Razaki, könne er nur für sich und einen kleinen Kreis von Menschen aus Benin sprechen. Er sagt, es sei nicht der Glaube oder die Hoffnung, dass es besser werden könnte in Europa. Es ist die Gewissheit, dass es schlimmer nicht werden kann. Es ist die Flucht vor dem Elend.

Er spricht auch von den Veränderungen in Benin. Früher sei es normal gewesen, sich in großen Familien durch Weitergabe der eigenen Kinder zu helfen. Eine weitere Normalität sei, dass Kinder in der Landwirtschaft e.t.c mitarbeiten. Spätestens mit 16 Jahren endet die Kindheit. Seine Leser in Benin hätten ganz normal auf diese Problematik in „Iman“ reagiert. Für Europäer hingegen sei das ein Schock gewesen, da hier die Meinung vorherrsche, Kinder müssten wohlbehütet bei den Eltern aufwachsen. Tragisch sei allerdings, dass – wie im Roman beschrieben – Kinder seit einiger Zeit auch gegen Geld weitergegeben werden. Und mit dem Geld sei die Gewalt dazu gekommen. Dagegen wolle er anschreiben. Und so bleibt für uns Leser die Hoffnung auf einen weiteren Roman.

Ryad Assani-Razaki. Iman. Aus dem Französischen von Sonja Finck

Assani-Razaki, ImanWas bewegt einen Leser, einen Roman wie „Iman“ in die Hand zu nehmen? Einen Roman, der direkt in das finstere Herz von Afrika führt? In welchem Eltern ihre Kinder für umgerechnet 23,- € verkaufen, damit diese dann von einer wohlhabenden Frau in der Großstadt wie Sklaven weiter vermietet werden?

Alissa und Toumani sind zwei dieser Kinder. Und das namenlose Land könnte Benin sein. Denn hier ist der Autor von „Iman“ 1981 geboren. Der Auslöser, das Buch zu lesen, waren Interesse und Neugier. Ganz besonders aber war es die aufregende Biographie von Assani-Razaki, der mit 23 Jahren nach Qubébec ausgewandert ist, später Informatik studiert hat und heute in großen Computerfirmen in Toronto und Montreal arbeitet. Ist er legal ausgewandert oder geflüchtet auf einem Boot? Durch Europa geschleust worden? Wie auch immer. Entscheidend für mich war schließlich die Bemerkung, dass Assani-Razaki seine literarische Bildung der Bibliothek seiner Mutter verdankt. Das hat mich neugierig gemacht. Ein kleiner Junge, der lesend klug und erwachsen wird und uns nun diesen Roman schenkt –

Die Geschichte beginnt tatsächlich mit dem Verkauf des 6-jährigen Toumani. Das Leben, das ihn erwartet, ist grausam und brutal. Es wird nichts verschönt. Und dennoch liest man atemlos. Parallel zu der Geschichte von Toumani werden andere Schicksale aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Was mich sehr überrascht hat, war der jeweilige Erzählton, der immer passend zur Figur wechselt. Die alte Hadscha spricht weise, erfahren und gelassen. Ihr Glaube und das fünfmalige Beten geben ihr Kraft.

Ihre von Hass erfüllte Tochter Zainab hingegen erlebt man frech und provozierend. Sie hat einen total negativen Blick auf Alles und Jeden. Einmal fragt George, ein freundlicher 50jähriger Weißer, der mit Zainab eine Affäre hat, warum sie so viel Bosheit in sich tragen würde. Zainab hat darauf keine Antwort, sie weiss nicht, wo all der Hass herkommt. Sie trägt ihn eben in sich. Und das Schlimme ist, sie gibt diesen Hass direkt weiter an ihre zwei Söhne. Iman, der Erstgeborene (Sohn von George) wächst zu einem großen und löwenstarken jungen Mann heran. Nach einem furchtbaren Familienstreit wirft Zainab ihn vor die Tür. Versöhnung unmöglich (zu viel Hass ist in ihr). Von diesem Tag an wohnt Iman bei seiner Großmutter Hadscha. Er träumt von dem Land seines weißen Vaters. Man wünscht ihm von Herzen, dass es ihm gelingen möge, die Spirale des Hasses zu durchbrechen.

Imans Leben ändert sich schlagartig, als Toumani in sein Leben tritt. Besser gesagt, rettet er in einer spektakulären Aktion Toumani das Leben. Und motiviert ihn später zum Weiterleben.

Wie der standhafte kleine Zinnsoldat – so steht Toumani eines Tages stolz auf seinem einzigen, dem linken Bein. Auch das Mädchen Alissa taucht wieder auf, sie ist zu einer atemberaubend schönen jungen Frau geworden. Alle drei verbindet eine tiefe Freundschaft. An einer Stelle des Romans kommt es zu einem wundervollen Bekenntnis Toumanis. Iman hatte gerade versprochen, ihm Lesen und Rechnen beizubringen.

„Ein Schauer lief mir über den Rücken. Die Sonne war untergegangen, es war dunkel geworden. Ich war müde. Iman auch, er lehnte den Kopf an meine Schulter, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hätte schwören können, dass er gemurmelt hat: ‚Ich werde dich nie verlassen, Toumani.‘ Ich saß da und wagte nicht, ihn anzusehen. Ich wusste nicht, was ich von seinen Worten halten sollte. Nach längerem Grübeln beschloss ich, ihm zu vetrauen. Ich blieb die ganze Nacht stocksteif sitzen. Ich rührte mich nicht, weil ich ihn auf keinen Fall wecken wollte … Die Jahre vergehen, aber ich erinnere mich überdeutlich an diese Nacht, in der Iman an meiner Schulter schlief und ich kein Auge zumachte … Iman, mein Freund? Wie kann ich begreiflich machen, was ich für ihn empfand? Ich verdanke ihm alles, sogar mein Menschsein. Die Freundschaft machte nur einen Bruchteil unserer Beziehung aus, sie war nichts als die Spitze eines riesigen Eisberges.“ (S. 144/145)

Aber dann wird diese Freundschaft auf eine extrem harte Probe gestellt. Das Schicksal meint es einfach nicht gut mit ihnen. Es macht einen wirklich wütend, zu erleben, wie drei junge Menschen alles versuchen, um dem Elend zu entkommen. Kaum Hoffnung auf Besserung! Die Bedingungen in ihrem Land sind einfach zu hart. Ein sorgenfreies Leben zu führen, fast unmöglich.

Jenseits von jeglicher Afrika-Romantik ist „Iman“ ein wirklich wichtiges Buch. Hart und brutal. Aber auch bewegend und schön. Dank der wunderbaren Sprache und der extremen Spannung, die Assani-Razaki aufbaut, kann man diesen Roman auch aushalten. Ja, es treibt einen geradezu gnadenlos voran. Bis man den letzten Satz verschlungen hat. Wieder einmal habe ich erkannt, was für ein relativ sorgenfreies Leben man hier in Europa führen kann. Viele meiner „Probleme“ erschienen mir plötzlich albern, gering, banal.

Assani-Razaki, Ryad. Iman. Verlag Klaus Wagenbach. Aus dem Französischen von Sonja Finck. 320 Seiten. 22,90 €