Was bewegt einen Leser, einen Roman wie „Iman“ in die Hand zu nehmen? Einen Roman, der direkt in das finstere Herz von Afrika führt? In welchem Eltern ihre Kinder für umgerechnet 23,- € verkaufen, damit diese dann von einer wohlhabenden Frau in der Großstadt wie Sklaven weiter vermietet werden?
Alissa und Toumani sind zwei dieser Kinder. Und das namenlose Land könnte Benin sein. Denn hier ist der Autor von „Iman“ 1981 geboren. Der Auslöser, das Buch zu lesen, waren Interesse und Neugier. Ganz besonders aber war es die aufregende Biographie von Assani-Razaki, der mit 23 Jahren nach Qubébec ausgewandert ist, später Informatik studiert hat und heute in großen Computerfirmen in Toronto und Montreal arbeitet. Ist er legal ausgewandert oder geflüchtet auf einem Boot? Durch Europa geschleust worden? Wie auch immer. Entscheidend für mich war schließlich die Bemerkung, dass Assani-Razaki seine literarische Bildung der Bibliothek seiner Mutter verdankt. Das hat mich neugierig gemacht. Ein kleiner Junge, der lesend klug und erwachsen wird und uns nun diesen Roman schenkt –
Die Geschichte beginnt tatsächlich mit dem Verkauf des 6-jährigen Toumani. Das Leben, das ihn erwartet, ist grausam und brutal. Es wird nichts verschönt. Und dennoch liest man atemlos. Parallel zu der Geschichte von Toumani werden andere Schicksale aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Was mich sehr überrascht hat, war der jeweilige Erzählton, der immer passend zur Figur wechselt. Die alte Hadscha spricht weise, erfahren und gelassen. Ihr Glaube und das fünfmalige Beten geben ihr Kraft.
Ihre von Hass erfüllte Tochter Zainab hingegen erlebt man frech und provozierend. Sie hat einen total negativen Blick auf Alles und Jeden. Einmal fragt George, ein freundlicher 50jähriger Weißer, der mit Zainab eine Affäre hat, warum sie so viel Bosheit in sich tragen würde. Zainab hat darauf keine Antwort, sie weiss nicht, wo all der Hass herkommt. Sie trägt ihn eben in sich. Und das Schlimme ist, sie gibt diesen Hass direkt weiter an ihre zwei Söhne. Iman, der Erstgeborene (Sohn von George) wächst zu einem großen und löwenstarken jungen Mann heran. Nach einem furchtbaren Familienstreit wirft Zainab ihn vor die Tür. Versöhnung unmöglich (zu viel Hass ist in ihr). Von diesem Tag an wohnt Iman bei seiner Großmutter Hadscha. Er träumt von dem Land seines weißen Vaters. Man wünscht ihm von Herzen, dass es ihm gelingen möge, die Spirale des Hasses zu durchbrechen.
Imans Leben ändert sich schlagartig, als Toumani in sein Leben tritt. Besser gesagt, rettet er in einer spektakulären Aktion Toumani das Leben. Und motiviert ihn später zum Weiterleben.
Wie der standhafte kleine Zinnsoldat – so steht Toumani eines Tages stolz auf seinem einzigen, dem linken Bein. Auch das Mädchen Alissa taucht wieder auf, sie ist zu einer atemberaubend schönen jungen Frau geworden. Alle drei verbindet eine tiefe Freundschaft. An einer Stelle des Romans kommt es zu einem wundervollen Bekenntnis Toumanis. Iman hatte gerade versprochen, ihm Lesen und Rechnen beizubringen.
„Ein Schauer lief mir über den Rücken. Die Sonne war untergegangen, es war dunkel geworden. Ich war müde. Iman auch, er lehnte den Kopf an meine Schulter, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hätte schwören können, dass er gemurmelt hat: ‚Ich werde dich nie verlassen, Toumani.‘ Ich saß da und wagte nicht, ihn anzusehen. Ich wusste nicht, was ich von seinen Worten halten sollte. Nach längerem Grübeln beschloss ich, ihm zu vetrauen. Ich blieb die ganze Nacht stocksteif sitzen. Ich rührte mich nicht, weil ich ihn auf keinen Fall wecken wollte … Die Jahre vergehen, aber ich erinnere mich überdeutlich an diese Nacht, in der Iman an meiner Schulter schlief und ich kein Auge zumachte … Iman, mein Freund? Wie kann ich begreiflich machen, was ich für ihn empfand? Ich verdanke ihm alles, sogar mein Menschsein. Die Freundschaft machte nur einen Bruchteil unserer Beziehung aus, sie war nichts als die Spitze eines riesigen Eisberges.“ (S. 144/145)
Aber dann wird diese Freundschaft auf eine extrem harte Probe gestellt. Das Schicksal meint es einfach nicht gut mit ihnen. Es macht einen wirklich wütend, zu erleben, wie drei junge Menschen alles versuchen, um dem Elend zu entkommen. Kaum Hoffnung auf Besserung! Die Bedingungen in ihrem Land sind einfach zu hart. Ein sorgenfreies Leben zu führen, fast unmöglich.
Jenseits von jeglicher Afrika-Romantik ist „Iman“ ein wirklich wichtiges Buch. Hart und brutal. Aber auch bewegend und schön. Dank der wunderbaren Sprache und der extremen Spannung, die Assani-Razaki aufbaut, kann man diesen Roman auch aushalten. Ja, es treibt einen geradezu gnadenlos voran. Bis man den letzten Satz verschlungen hat. Wieder einmal habe ich erkannt, was für ein relativ sorgenfreies Leben man hier in Europa führen kann. Viele meiner „Probleme“ erschienen mir plötzlich albern, gering, banal.
Assani-Razaki, Ryad. Iman. Verlag Klaus Wagenbach. Aus dem Französischen von Sonja Finck. 320 Seiten. 22,90 €
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