Schlagwort-Archive: Suhrkamp Verlag Berlin

David Vann. Aquarium

vann_aquariumIch träume mich weit weg mit diesem Roman. Zu Caitlin nach Nordamerika, in die dunklen sparsam beleuchteten Gänge des Großaquariums und zu den faszinierenden stummen Wesen hinter Glas, die dort ruhig und gelassen ihre Bahn ziehen. Bunt schillernd, urzeitlich und bizarr.

Caitlin ist ein zwölfjähriges Mädchen, das all seine Freizeit im Aquarium in Seattle verbringt. Hier fühlt sie sich wie in einem U-Boot in ungeheurer Tiefe. Wenn sie dann die faszinierende Unterwasserwelt verlässt, betritt sie die reale Welt der grau-matschigen Großstadt. Dort wartet sie auf ihre Mutter, die in ihrem Thunderbird selten pünktlich ist. Der kindliche Traum von einer Zukunft weit weg aus diesem Leben verwundert deshalb wenig:

Ich würde später mal Ichtyologin werden. Ich würde in Australien leben oder Indonesien oder Belize oder am Roten Meer. Und fast den ganzen Tag in diesem warmen Wasser tauchen. Ein Fischbecken, das sich Tausende von Meilen erstreckte. Im Aquarium kamen wir ja nicht zu ihnen (S. 14).  Weiterlesen

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Lutz Seiler. Kruso

Wustrow 2014 005Die Schreie der Möwen und das Rauschen des Meeres im Ohr, genieße ich es, am Strand der Ostsee zu sitzen und „Kruso“ zu lesen. Es ist ein grauer Tag, ab und zu kommt eine neugierige Möwe vorbei. Zwischen Sanddorn und Brombeergebüsch verschwinde ich mit Lutz Seiler nach Hiddensee in jenen Sommer ’89. Aus den grauen Nebeln ersteht vor meinem inneren Auge das große hölzerne Gebilde des Klausners auf der Klippe am stürmischen Meer …

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Katja Petrowskaja. Vielleicht Esther

Petrowskaja, Vielleicht EstherEndlich finde ich Zeit, Petrowskajas Roman zu lesen, an dessen Beginn ich gedanklich mit der Autorin auf dem Berliner Hauptbahnhof stehe. Sie reist nach Warschau – auf den Spuren ihrer Familie. Als ein Kind der ehemaligen Sowjetunion ist sie zwar in Kiew aufgewachsen und lebt heute in Berlin, doch ihre Wurzeln findet sie in den polnischen und jüdischen Teilen der Stadt Warschau.

So folge ich ihr auf verschlungen Pfaden. Tiefer, immer tiefer hinein in ihre Geschichte. Manchmal verliere ich den Überblick – Simon oder Zygmund, Estera oder Esther? – doch nie die Lust, weiterzulesen. Nein, im Gegenteil. Und ich frage mich, wann es mir das letzte Mal passiert ist, dass allein der Klang der Sprache und die Melodie des Textes so starke Emotionen in mir ausgelöst haben. Eindringlich, suggestiv und immer auch mit einem Sinn für Humor, so erzählt Petrowskaja. Sich diesem Sog zu entziehen, unmöglich.

Mehr und mehr bekomme ich beim Lesen das Gefühl, als hätte sie nicht nur all ihren jüdischen und polnischen Vorfahren eine Stimme gegeben, sondern als würde sie alle Toten aus diesem versunkenen Osteuropa wieder auferstehen lassen. Wenn sie Pflastersteine, Häuser, alte Gassen beschreibt, dann spüre ich eine seltsame Vertrautheit, als sei ich selbst dort gewesen. Danzig. Warschau. Kiew. Babi Jar.

Und dann all die Lehrer an Schulen für Taubstumme in ihrer Familie! Als hätte es immer schon ein geheimes Band zwischen den Ahnen und den Nachfahren gegeben. Uralte Fotos ergänzen den Text und machen etwas ganz Besonderes daraus. Ich lese, schaue, blättere vor und wieder zurück …. All dies ist vorbei und vergangen. Wäre versunken und vergessen. Glücklicherweise hat Katja Petrowskaja die Geschichten ihrer Familie aufgespürt und bewahrt. Manchmal existiert lediglich ein Foto oder eine verschwommene Erinnerung. Dann verknüpft sie dieses reale Detail mit ihren Fiktionen und erzählt, wie es gewesen sein könnte. Die Übergänge sind fließend.

So auch die Geschichte der Babuschka. Weil sie so schlecht zu Fuß war, hat die Familie sie an jenem tragischen 29. September 1941 in der Kiewer Wohnung zurück gelassen. Es ist der Tag, an welchem sich alle Juden der Stadt an einem von den Deutschen akkurat beschriebenen Platz zur „Evakuierung“ einzufinden hatten. Petrowskaja fragt sich, wie viele Nachbarn hinter ihren Vorhängen die Tausenden doch gesehen haben müssen, als diese zur Schlucht von Babi Jar geführt werden. Eskortiert von unzähligen freiwilligen Helfern. Innerhalb weniger Tage werden dort mehr als 30.000 Juden erschossen –

Die Familie Katjas flieht in letzter Sekunde. Jedoch ohne die Babuschka. Großvater Semjon und sein Sohn (Katjas Vater) finden Platz auf der „Arche Laster“. Die pflichtbewußte Babuschka macht sich Stunden später mühsam allein auf den Weg, um der Aufforderung zur „Evakuierung“ nachzukommen … In der Erinnerung der Familie war sie immer die Babuschka. Ja, wie hieß sie eigentlich? Vielleicht Esther –

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Babi Jar Menorah-Monument

Katja Petrowskaja. Vielleicht Esther. Suhrkamp Verlag Berlin 2014.  285 Seiten. 19,95 €

„Der Liebhaber“. Aus dem Französischen von Ilma Rakusa – Hommage à Marguerite Duras

Der Liebhaber. Marguerite DurasAm 4. April 2014 wäre die französische Autorin Marguerite Duras 100 Jahre alt geworden.

Für mich ein schöner Anlass, diesen kleinen feinen Roman erneut zu lesen. Auch geht es mir mit manchen Büchern, wie mit einem Stück guter Musik. Man möchte es wieder und wieder hören. Man ahnt die Höhen und Tiefen, summt an bekannten Stellen mit… So geht es mir mit dem „Liebhaber“ – ich summe mit.

Ein 15jähriges Mädchen steht an der Reling einer Fähre, die den Mekong überquert. In einem Land, wo es keine Jahreszeiten gibt. Nur eintönige Hitze. Kein Frühling. Keine Wiederkehr. Auf ganz besonders feinsinnige Art beschreibt Duras diesen Dunst, die gedämpften Farben, das schlammige Licht des Flusses zwischen den Reisfeldern. Mit seiner Mutter und den zwei Brüdern lebt das Mädchen im Saigon der 30er Jahre. Um in das französische Mädchenpensionat in Sadec zu gehen, überquert die Kleine täglich den Mekong. Groß und wild strömt er dem Ozean zu, ein rasch fließender Fluss. Doch für das Mädchen scheint an jenem Tag die Zeit still zu stehen.

„Ich trage ein Kleid aus Rohseide, es ist abgenutzt, beinahe durchsichtig … Das Kleid ist ärmellos, sehr tief ausgeschnitten … Ich habe mir einen Ledergürtel umgebunden … An jenem Tag muß ich das berüchtigte Paar Schuhe aus Goldlamé mit hohen Absätzen getragen haben … Ich gehe ins Gymnasium in Abendschuhen, die mit kleinen Verzierungen aus Strass besetzt sind … Aber nicht die Schuhe sind das Ungewöhnliche, das Unerhörte an der Kleinen an diesem Tag. Das, was an diesem Tag zählt, ist, dass die Kleine einen Männerhut trägt, einen weichen rosenholzfarbenen Hut mit breitem schwarzem Band.“ (S.16/17)

Was ich an Duras so mag, das sind diese unmerklichen Perspektivwechsel. Eben steckt man noch im Körper des Mädchens dort an der Reling mit dem Blick auf den Mekong, um im nächsten Moment ein stiller Beobachter von außen zu sein. Denn auf der Fähre steht eine schwarze Limousine. Darin ein eleganter Mann in einem europäischen Anzug. Er ist Chinese und betrachtet das Mädchen. Er wird sich unsterblich verlieben –

Duras. Der LiebhaberFür die damalige Zeit unvorstellbar. Nicht nur, dass ein wohlhabender Chinese eine Weiße liebt, die aus armen Verhältnissen kommt. Noch dazu ist sie viel zu jung. Duras erzählt die Geschichte dieser „amour fou“ ohne große Worte. Kitschige oder hocherotische Szenen wird man auf diesen wenigen Seiten vergeblich suchen. Es ist die Kunst der Auslassung, die die Geschichte so besonders macht und den Leser zum Phantasieren und zum Träumen verführt. Der gleichnamige Film (1992 unter Regie von Jean-Jacques Annaud) geht mit Duras‘ Stoff ganz anders um, berauscht mit exotischen Landschaftsaufnahmen des heutigen Vietnam und setzt das Auge der Kamera stark auf die Erotik (im Bild: Tony Leung Ka-Fai und Jane March).

Marguerite Duras aber bannt den Leser mit der Kraft und der Schönheit ihrer Worte und genau deshalb würde ich immer wieder den Roman bevorzugen, um der melancholischen Stimme der Erzählerin zu folgen, die manchmal spröde, dann wieder mädchenhaft schüchtern erzählt. Von ihrer ersten großen Liebe und der Macht des Begehrens. Vom Leben in Französisch-Indochina. Von der mit der Erziehung überforderten Mutter, vom opiumsüchtigen Bruder und von dieser immerwährenden dunstigen Hitze. Duras entwickelt auf diesen wenigen Seiten eine knisternde Spannung, der man sich kaum entziehen kann und die lange bleibt.

Marguerite Duras. Der Liebhaber. Suhrkamp Taschenbuch. Berlin 2014. 143 Seiten.