Schlagwort-Archive: Paris

Philippe Lançon. Der Fetzen

Lançon_Der_FetzenKaum habe ich dieses Buch zugeschlagen, da vermisse ich es bereits. Ich habe das Gefühl, ich hätte mich gerade stundenlang mit Philippe Lançon über Literatur und Musik unterhalten. Über Kafkas Briefe an Milena, Thomas Manns Der Zauberberg und über Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust (Lançons ständige Begleiter und Lebensretter). Und immer wieder über Bachs Goldberg-Variationen (Glenn Gould) oder Das wohltemperierte Klavier (Svjatoslav Richter). Die Musik von Bach schenkte ihm Erleichterung wie die tägliche Dosis Morphium:
Ja, mehr als das: Sie machte jeden Ansatz einer Klage, jedes Gefühl von Ungerechtigkeit und jede Fremdheit des Körpers zunichte. Bach senkte sich über das Zimmer und das Bett und mein Leben, über die Krankenschwestern und ihre Wagen. Er hüllte uns ein. Im Leuchten seiner Klänge zeichnete sich jede einzelne Geste ab, und der Friede, ein besonderer Friede machte sich breit (Seite 280). Weiterlesen

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Christine Wunnicke. Der Fuchs und Dr. Shimamura

wunnicke_der_fuchsIn seinem Haus in Kameoka sitzt Ende Februar 1922 in einem Rattansessel Dr. Shimamura, Professor emeritus für Nervenheilkunde in Kyoto. Sein Fieber steigt, denn Shimamura leidet an Schwindsucht. Ihm ist kalt, weshalb er über seinem Kimono einen verschlissenen Morgenrock aus Deutschland trägt. Weil sich die Ärmel des seidigen Kimonos ständig verknautschen und um seine mageren Arme herum verdrehen, will er seit Ewigkeiten den Kimono über statt unter dem Morgenrock tragen, tut es aber nie. Eigentlich hasst er diesen Morgenrock, den er vor etwa 40 Jahren in einem eleganten Modegeschäft am Pariser Platz in Berlin erstanden hat. Shimamura ist mir sofort sympathisch. Wie er dort, umsorgt von vier Frauen, in seinem kleinen Haus sitzt und auf das vergilbte Fensterpapier schaut, welches in der Farbe seinem Morgenmantel ähnelt. Seine Gedanken gehen zurück nach Wien, wo er als Eingebildeter Kranker zu einem Kostümfest eben jenen Morgenmantel trug, nebst einer Schlafmütze und einem aus der Irrenanstalt entliehenem Gerät. Viele junge Mädchen waren auf jenem Karneval. Aber … wer hatte ihn damals eingeladen? Daran erinnert er sich nicht.  Weiterlesen

Michel Houellebecq. Unterwerfung

michel_houellebecq_unterwerfungFrei von jeglicher Erwartung und und ohne Voreingenommenheit lese ich Unterwerfung. Ich habe bisher keine einzige Rezension gelesen, keine andere Meinung gehört. Ich möchte mich diesem Buch ganz offen und frei annähern. Es beginnt im Paris des Jahres 2022 mit dem 45-jährigen François, Literatur-Professor an der Sorbonne. Er trinkt gern Alkohol bis zur Besinnungslosigkeit, raucht leidenschaftlich und findet junge Studentinnen extrem sexy. Ihn erregt ihre Art zu reden, ihn erregen ihre Miniröcke und die knappen Tops.

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Patrick Modiano. Die kleine Bijou

Modiano, BijouKaum wurde am 09. Oktober der Nobelpreis für Literatur verkündet, mußte ich mir schnell ein Buch von Modiano kaufen. Direkt danach landete es in meinem Reisegepäck für die Frankfurter Buchmesse. Das ist so eine Art Tradition bei mir. Bin ich im vorigen Jahr mit den „Tricks“ von Alice Munro nach Frankfurt gereist, ist es diesmal „Die kleine Bijou“.  Seit der Buchmesse ist aber schon wieder so viel passiert, dass ich tief graben muss. Was erzählt Modiano in diesem kleinen Roman? Da ist die 19jährige Thérèse, die als Mädchen Die Kleine Bijou gerufen wird. Sie ist noch ein Kind, als ihre Maman mit einem Mann nach Marokko verschwindet. Die Kleine Bijou bleibt in Paris. Eine Spurensuche –

Prenzlauer Berg 19.10.14 008Und dann habe ich plötzlich eine Idee. Denn genau wie die Kleine Bijou, bin auch ich an diesem sonnigen Oktobersonntag auf Spurensuche. Sitze bei marokkanischem Minzetee im 1993 eröffneten Café November in der Sredzkistrasse im schönen Prenzlauer Berg. Wie viele Erinnerungen ich mit den Straßen hier verbinde! Egal, ob ich in der belebten Eberswalder Strasse stehe und das Trödelmarkt-Getümmel im Mauerpark beobachte oder ob ich in einem Café in der Oderberger Strasse sitze mit Blick auf ebendiesen Park … Plötzlich verschwinden alle Farben. Menschenleere Ödnis erstreckt sich vor meinem Auge. Ich bin in den 80er Jahren und die Häuser beider Strassen sind unverputzt sowie voller Einschusslöcher aus dem letzten Krieg. Beide Strassen führen direkt hin zu einer grauen Betonmauer und einem Aussichtsturm. Ein Grenzsoldat bewacht den Ostteil der Stadt vor der Mauer, dahinter die Bernauer Strasse und der Wedding. Auf dem Aussichtsturm eine winkende Freundin aus Kreuzberg. Vor der Mauer: meine Ostberliner Freunde und ich …

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