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Katja Petrowskaja. Vielleicht Esther

Petrowskaja, Vielleicht EstherEndlich finde ich Zeit, Petrowskajas Roman zu lesen, an dessen Beginn ich gedanklich mit der Autorin auf dem Berliner Hauptbahnhof stehe. Sie reist nach Warschau – auf den Spuren ihrer Familie. Als ein Kind der ehemaligen Sowjetunion ist sie zwar in Kiew aufgewachsen und lebt heute in Berlin, doch ihre Wurzeln findet sie in den polnischen und jüdischen Teilen der Stadt Warschau.

So folge ich ihr auf verschlungen Pfaden. Tiefer, immer tiefer hinein in ihre Geschichte. Manchmal verliere ich den Überblick – Simon oder Zygmund, Estera oder Esther? – doch nie die Lust, weiterzulesen. Nein, im Gegenteil. Und ich frage mich, wann es mir das letzte Mal passiert ist, dass allein der Klang der Sprache und die Melodie des Textes so starke Emotionen in mir ausgelöst haben. Eindringlich, suggestiv und immer auch mit einem Sinn für Humor, so erzählt Petrowskaja. Sich diesem Sog zu entziehen, unmöglich.

Mehr und mehr bekomme ich beim Lesen das Gefühl, als hätte sie nicht nur all ihren jüdischen und polnischen Vorfahren eine Stimme gegeben, sondern als würde sie alle Toten aus diesem versunkenen Osteuropa wieder auferstehen lassen. Wenn sie Pflastersteine, Häuser, alte Gassen beschreibt, dann spüre ich eine seltsame Vertrautheit, als sei ich selbst dort gewesen. Danzig. Warschau. Kiew. Babi Jar.

Und dann all die Lehrer an Schulen für Taubstumme in ihrer Familie! Als hätte es immer schon ein geheimes Band zwischen den Ahnen und den Nachfahren gegeben. Uralte Fotos ergänzen den Text und machen etwas ganz Besonderes daraus. Ich lese, schaue, blättere vor und wieder zurück …. All dies ist vorbei und vergangen. Wäre versunken und vergessen. Glücklicherweise hat Katja Petrowskaja die Geschichten ihrer Familie aufgespürt und bewahrt. Manchmal existiert lediglich ein Foto oder eine verschwommene Erinnerung. Dann verknüpft sie dieses reale Detail mit ihren Fiktionen und erzählt, wie es gewesen sein könnte. Die Übergänge sind fließend.

So auch die Geschichte der Babuschka. Weil sie so schlecht zu Fuß war, hat die Familie sie an jenem tragischen 29. September 1941 in der Kiewer Wohnung zurück gelassen. Es ist der Tag, an welchem sich alle Juden der Stadt an einem von den Deutschen akkurat beschriebenen Platz zur „Evakuierung“ einzufinden hatten. Petrowskaja fragt sich, wie viele Nachbarn hinter ihren Vorhängen die Tausenden doch gesehen haben müssen, als diese zur Schlucht von Babi Jar geführt werden. Eskortiert von unzähligen freiwilligen Helfern. Innerhalb weniger Tage werden dort mehr als 30.000 Juden erschossen –

Die Familie Katjas flieht in letzter Sekunde. Jedoch ohne die Babuschka. Großvater Semjon und sein Sohn (Katjas Vater) finden Platz auf der „Arche Laster“. Die pflichtbewußte Babuschka macht sich Stunden später mühsam allein auf den Weg, um der Aufforderung zur „Evakuierung“ nachzukommen … In der Erinnerung der Familie war sie immer die Babuschka. Ja, wie hieß sie eigentlich? Vielleicht Esther –

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Babi Jar Menorah-Monument

Katja Petrowskaja. Vielleicht Esther. Suhrkamp Verlag Berlin 2014.  285 Seiten. 19,95 €

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