Schlagwort-Archive: Italien

Lenù, Lila, Neapel – die Geschichte geht weiter

ferrante_die_geschichte_eines_namensMeine geniale Freundin ist aus den Buchhandlungen nicht mehr wegzudenken. Seit Erscheinen des Buches im September 2016 kommen Leser und Leserinnen verschiedensten Alters, um das Buch zu kaufen oder einfach vor dem Tisch mit den Bücherstapeln zu stehen und darüber zu reden. Ein junger Mann sagte zu mir, ihn hätte emotional nichts so berührt, wie Ferrantes Meine geniale Freundin und wann die Fortsetzung käme. Auch ich war extrem gespannt auf Die Geschichte eines neuen Namens – erschienen im Januar 2017. Anfangs verschreckten mich noch die mehr als 600 Seiten. Würde ich gut reinkommen in die Story, mich an jede der Figuren erinnern? Ich befürchtete, Lenù könnte mich wieder nerven mit ihrer streberhaften Art. Doch dann betrete ich diesen kleinen turbulenten Kosmos des Rione. Und bin sofort drin! Bereits mit den ersten Sätzen ist diese Magie wieder da:

Im Frühling 1966 vertraute Lila mir in höchster Aufregung eine Blechschachtel mit acht Schreibheften an. Sie sagte, sie könne sie nicht länger zu Hause behalten, sie fürchte, ihr Mann könne sie lesen, … zu jener Zeit stand es denkbar schlecht um unsere Freundschaft, doch offenbar sah nur ich das so …  Weiterlesen

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Akos Doma. Der Weg der Wünsche

doma_weg_der_wunscheAkos Domas Der Weg der Wünsche ist ein sehr stiller Roman, dessen Kraft sich ganz langsam entfaltet, der aber lange nachwirkt. Er ist außerdem einer der wenigen unter den 20 Nominierten der Longlist, welchen ich bis zur letzten Seite gelesen und dabei Freude und Glück empfunden habe. Ich wachte morgens auf, und meine ersten Gedanken waren: Kaffee trinken. Doma lesen. Mit jedem Tag ist mir die kleine ungarische Familie ein Stück mehr ans Herz gewachsen, habe ich intensiver mit Teréz, Károly, Misi und Bori gelacht und gelitten.

Schaue ich zurück auf den Tag der Veröffentlichung der Longlist, dann war es genau dieses Buch, das mich neben Bodo Kirchhhoffs Widerfahrnis am meisten interessierte. Dass Doma die Geschichte einer Flucht aus dem Ungarn der 70er Jahre erzählt, hatte mich sofort neugierig gemacht. Genau wie der Junge Misi im Roman, hat auch Akos Doma als Jugendlicher mit seiner Familie Budapest verlassen, um über Italien und die Schweiz nach Deutschland zu flüchten. Ganz subtil beschreibt er die stille und unauffällige, aber tiefgreifende Veränderung einer Familie unter den Bedingungen der Flucht. Weiterlesen

Elena Ferrante. Meine geniale Freundin

ferrante_meine_geniale_freundinIm Mai diesen Jahres habe ich das erste Mal von der italienischen Autorin Elena Ferrante gehört, deren Romane in deutscher Übersetzung vor einigen Jahren in den Verlagen List und DVA erschienen sind. Irgendwie hatte ich mich bisher weder für die Autorin noch für ihre Romane interessiert. Das änderte sich, als ich von dem Buch Meine geniale Freundin hörte – einem weltweit vielbeachteten Roman, der nun (von Karin Krieger ins Deutsche übersetzt) im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

Ich denke zurück an jenen 22. Mai 2016 und an das Bloggertreffen im Haus des Verlages. Hier gibt es bereits erste Informationen zum Buch und zur Autorin (deren Wunsch, anonym zu bleiben ihr italienischer Verlag seit 1992 akzeptiert). Große Begeisterung für das Buch und seine Autorin von allen Suhrkamp-Mitarbeitern. Verhaltene Neugier bei uns Bloggern (nachzulesen bei Jochen von lustauflesen.de). Für jeden von uns gibt es als Überraschung noch ein Leseexemplar des Romans und so ist der Monat Mai für mich Ferrante-Monat. Die ganz große Begeisterung stellt sich bei mir nicht ein, doch beschäftigt mich die Geschichte um Elena und Lila bis zum heutigen Tag.

In diesem ersten Teil ihrer vierbändigen Saga erzählt Ferrante in ausdrucksstarken Bildern die Geschichte zweier fleißiger kleiner Schulmädchen, deren Weg von Anfang an klar zu sein scheint. Und der sich ganz allmählich und schließlich für immer verändert.  Weiterlesen

Margaret Mazzantini. Das Meer am Morgen

mazzantini_das_meer_am_morgenFarid, Nachfahre nomadisierender Beduinen in Libyen, hat das Meer nie gesehen. Nie ist er durch seine erfrischenden Wellen getaucht. Doch in seiner Phantasie sieht er es oft vor sich … sternenübersät wie der Mantel eines Paschas. Blau wie die blaue Mauer der toten Stadt. Er hat die versteinerten Muscheln gesucht, die vor Jahrmillionen verschüttet wurden, als das Meer in die Wüste kam. Hat den Eidechsenfischen nachgespürt, die unterm Sand schwimmen. Er hat den Salzsee gesehen und den Bittersee und die silbrigen Dromedare, die sich wie ramponierte Schiffe vorwärtsbewegen. Er wohnt in einer der letzten Sahara-Oasen (S. 7). Als sein Vater von Rebellen getötet wird, fliehen seine Mutter Jamila und Farid mit dem letzten Geld, das sie besitzen, zum Meer. Dort erwartet sie ein Schlepperschiff mit einem GPS, welches sie an die Küste Italiens bringen soll …  Weiterlesen

Donatella Di Pietrantonio. Bella Mia

Pietrantonio_Bella_MiaCaterina und Olivia sind Zwillinge, aufgewachsen in den Abruzzen, einer Region zwischen italienischer Adria auf der einen und Bergen und Hügeln auf der anderen Seite. Olivia war immer die schönere, die stärkere der Schwestern – ein autonomes, unverwundbares Wesen. Manche hatten auch Angst vor ihr und flüchteten (S. 176). Doch das Erdbeben in L’Aquila vom 6. April 2009 bringt ihr den Tod. Sie wollte eben noch schnell eine Jeans und Schuhe für ihren nur notdürftig bekleideten Sohn Marco holen, da stürzt das Haus zusammen. Er sollte sich auf der Flucht vor der bebenden Erde nicht schämen müssen, nur mit einer Decke über den nackten Schultern. Caterina und Marco stehen vor der Türschwelle als das Unglück geschieht. Ohnmächtig vor Hilflosigkeit. Was macht das mit einem Teenager? Unvorbereitet verliert er in einer einzigen Minute nicht nur sein Zuhause, sondern die von ihm am meisten geliebte Person.  Weiterlesen

Michela Murgia. Accabadora – mein Lieblingsbuch aus dem Verlag für wilde Leser

WagenbachKürzlich lese ich den Beitrag „50 jahre und kein bißchen leise“ von der Klappentexterin. Ein Jubiläum ist zu feiern. Wagenbach – der unabhängige Verlag für wilde Leser – feiert Geburtstag. Sofort frage ich mich, welches ist eigentlich mein Lieblingsbuch von allen bisher gelesenen Romanen aus diesem Verlag –

Vielleicht die „Souveräne Leserin“ von Alan Bennett? Es kam damals als dünnes Heftchen mit dem Aufdruck „unkorrigiertes Leseexemplar“ in meine Hände und hat mich dann auf einen Kurztrip nach London begleitet. Dort habe ich es auch gelesen und mich aufs Beste amüsiert über die Queen, die die Welt der Romane entdeckt.  Nie vergesse ich das berauschende Gefühl von jenem Mai 2008, einen außergewöhnlichen Roman in den Händen zu halten. „Die souveräne Leserin“ wurde zum Liebling unzähliger Buchhändler und Leser und hat es damals sogar in die Spiegelbestsellerliste geschafft.

Erstmal weiter …. mein Lieblingsbuch. Ich stehe vor meinem Bücherregal und grüble. Begeisterte mich nicht auch „Gleissendes Glück“ von A.L. Kennedy ganz unglaublich? Und was ist mit „Der Ursprung der Welt“ von Jorge Edwards? Und mit Assani-Razakis „Iman“ und „Wojna“ von Larrue?!

Nein – jetzt bin ich sicher!!! Immer wieder empfohlen und verschenkt, ist es meine über alles geliebte „Accabadora“ von Michela Murgia. Der Roman ist 2010 auf Deutsch erschienen. Murgia erzählt nicht nur eine unvergessliche Geschichte, sondern behandelt elegant und wie nebenbei (auf lediglich 170 Seiten) die drei großen Themen Sterbehilfe, Adoption und Kinderlosigkeit.

Ein wirklich großartiges Buch! Weshalb es auch ein wenig krumm und schief ist, so oft habe ich es seitdem verliehen. Jede meiner Freundinnen sollte unbedingt die Geschichte um die geheimnisvolle Tzia Bonaria lesen. Als Hebamme und Sterbehelferin lebt und arbeitet sie in einem kleinen Dorf auf Sardinien. Da sie selbst kinderlos ist, holt sie sich eines Tages das Mädchen Maria aus einer vielköpfigen Familie in ihr Zuhause. Mit viel Wärme und großer Präzision erzählt Murgia diese archaisch anmutende Story, die ganz zeitlos erzählt ist und so beginnt:

Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren werden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen. In dieser zweiten Geburt wurde Maria Listru zum späten Segen für Bonaria Urrai … Maria lächelte, obwohl sie tief im Innnern wußte, das eigentlich Grund zum Weinen bestanden hätte.

Beim weiteren Stöbern fällt mir nicht nur ein Korkenzieher sondern außerdem ein fast 50 Jahre altes Heftchen aus dem Verlag Klaus Wagenbach in die Hände: „Das schwarze Brett 2. Almanach 1966“. 64 Seiten. Meine Mutter hatte in den 60er Jahren als Buchhändlerin gearbeitet und es mir irgendwann geschenkt. Ehrfürchtig und ungläubig blättere ich darin, reise in der Zeit. Damals konnte niemand auch nur ahnen, dass wir dieser Tage ein 50jähriges Jubiläum zu feiern haben. Auf der ersten Seite (und im 2. Jahr des Verlages) schreibt Klaus Wagenbach:

„Die künftige Arbeit des Verlages hängt sehr davon ab, dass die jetzige bekannt wird“ – so steht es auf den Karten, die jedem Buch des Verlages beiliegen … Die Freunde unter Lesern und Buchhändlern haben entschieden dabei geholfen, dem Verlag die drei übernommenen Risiken – hohes Autorenhonorar, niedriger Ladenpreis, kein Fremdkapital – zu erleichtern. Sie widerlegten die Voraussagen, der Verlag müsse entweder den Maßstab literarischer Qualität oder seine Unabhängigkeit aufgeben … Zahlreiche Freunde haben ihre Hilfe angeboten … kaufen Sie hie und da ein Quartheft, das ist Hilfe genug, eine sehr entscheidende Hilfe.

Wagenbach

Viele Leser haben seitdem Wagenbachs Bücher gekauft und gelesen und damit möglich gemacht, dass der Verlag überleben konnte – 50 Jahre unabhängig überleben konnte. Darauf trinke ich einen Schluck Wein, entkorkt (ganz klar!) mit meinem „wilden“ Wagenbach-Korkenzieher und freue mich auf viele neue Bücher. Beste Wünsche an das gesamte Verlags-Team!

Mein Lieblingsbuch: Michela Murgia. Accabadora. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Verlag Klaus Wagenbach Berlin. 2010. 170 Seiten (auch als TB im Deutschen Taschenbuch Verlag 2011)

 

 

 

 

Erri de Luca. Fische schliessen nie die Augen. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

fischeschliessenniedieaugen101_v-contentmediatippErri de Luca, in Neapel geboren, ist einer der meistgelesenen Autoren Italiens. Was aber ist das Geheimnis seines Erfolgs? Ich habe mich das oft gefragt und immer wieder mal einen seiner im Graf Verlag auf Deutsch erschienenen Romane in die Hand genommen. Und nun bekam ich vor einigen Tagen das Buch „Fische schließen nie die Augen“ von einem Freund per Post übersendet. Mit der dringenden Empfehlung, es zu lesen!

Das habe ich getan und bin für ein paar Tage eingetaucht in das Neapel der 60er Jahre. Es ist mir so schwer gefallen, wieder aufzutauchen. Ich wollte weiter bei den zwei Hauptfiguren sein: bei dem Jungen, der lieber mit den Fischern auf’s Meer hinaus fährt, als mit Gleichaltrigen Fussball zu spielen und bei dem Mädchen, das seine Zeit mit Krimis verbringt:

„Unter dem Sonnenschirm neben uns verbrachte ein Mädchen aus dem Norden seine Zeit damit, kleine gelbe Bücher zu lesen, die gleichen, die meine Großmutter an einem Tag verschlang. Ich staunte darüber, dass man ein ganzes Buch in einem Tag lesen kann. Noch heute wandere ich langsam über die Zeilen….“ (S. 27)

Und so sitzt der Ich-Erzähler Tag für Tag am Strand – jenes lesende Mädchen beobachtend. Das sich kaum rührt und eingehüllt scheint in eine Aura aus Stille und Raum. Das so rundum gleichgültig wirkt. Doch wenn er denkt, sie bemerke ihn nicht, so täuscht er sich. Etwas Sensibles, ganz Feines entspinnt sich zwischen den beiden – die im Kopf längst keine Kinder mehr sind. Noch mehr als seine Umgebung aber beobachtet der Junge sich selbst, reflektiert, was mit ihm geschieht:

„Ich war inzwischen zehn Jahre alt, ein sprachloses Knäuel Kindheit. Zehn Jahre war eine feierliche Ziellinie, zum ersten Mal schrieb man sein Alter mit zwei Ziffern. Die Kindheit endet offiziell … aber nichts geschieht, man steckt in demselben gehemmten Kinderkörper früherer Sommer, innerlich aufgewühlt und äußerlich unverändert.“ (S.9)

Im Kopf also empfindet der hochsensible Junge große Gefühle und glaubt außerdem, über die Liebe Bescheid zu wissen, weil er sie aus Büchern kennt. Doch Stimme und Körper sind die eines Kindes. Er will ausbrechen aus diesem Kokon.

Was ihm dann mit dem Mädchen aus dem Norden geschieht, ist jenseits seiner Leseerfahrung. Auch das ist neu für ihn: Rivalen, eine Dreier-Clique aus Jungs, die auch in der Nähe des schönen Mädchens sein wollen. Das Empfinden erster großer Gefühle vermischt sich deshalb für ihn mit der Erkenntnis, dass auch Schmerz mit dem Erwachsenwerden verbunden ist.

De Lucas Roman ist eine sensibel beobachtete Sommergeschichte, die lange nachwirkt. In jeder Zeile dieses schmalen Buches spürt man eine große Liebe zu seinen Figuren und dem Neapel seiner Kindheit. Da ist kein überflüssiges Wort, kein langweiliger Satz. Von de Luca werde ich mich gern wieder entführen lassen.