Vor kurzem habe ich mir überlegt, was ich wohl dieses Jahr in der Nacht zum 1. Januar traditionell in hohem Bogen aus dem Fenster werfen werde. Wie kam ich darauf? Nie hatte ich dergleichen getan. Dann fiel mir ein, dass Erri de Luca diese neapolitanische Tradition – sich von alten unbrauchbaren Dingen in der Sylvesternacht zu trennen – beschreibt. Wild fliegen Töpfe und Pfannen aus den Fenstern auf die Strasse. Finde ich großartig! Gelesen habe ich davon in „Montedidio“.
Wie auch schon in „Fische schließen nie die Augen“, macht das Lesen dieser Story einfach glücklich. Beide Geschichten ähneln sich irgendwie und sind doch total verschieden! Wieder ist es eine erste Liebe im Neapel der 60er Jahre, erzählt aus dem Blick eines dreizehnjährigen Jungen, der aber kein Schüler mehr ist. Diesmal hat die erste Liebe einen Namen: Maria.
Der Junge arbeitet täglich in der Werkstatt von Meister Errico, wo er still beobachtet, was geschieht und alles akribisch auf eine Papierrolle schreibt. Es wirkt wie eine versunkene Welt, dieses alte Neapel. Seine Eltern beschreibt der Junge so:
„Papa ist groß wie ein Schrank und passt gerade unter dem Türpfosten durch … und auch Mama ist groß, mit ihren pechschwarzen Haaren. Sie ist mager, ihr Gesicht übernervös … Es kann kein stolzeres Kind an der Hafenpromenade geben als mich … fühlte ich mich unter meinen beiden Riesen von einem Glück erfüllt, das durch nichts aufgewogen werden könnte.“ (S. 79)
Wieder sind es ganz einfache Menschen mit außergewöhnlichen Charakteren, von denen de Luca erzählt. Beispielsweise der Schuster Rafaniello, der fest daran glaubt, eines Tages nach Jerusalem fliegen zu können. Mir hat sich ins Gedächtnis ganz besonders das Bild des Jungen geprägt, der täglich auf dem Dach des Hauses und mit Blick auf den Montedidio seine Muskeln trainiert: mit einem aus edlem Holz geschnitzten Bumerang. Und hier trifft er, der schüchterne Junge, viele Male seine Maria.
„Ich wusste nicht, dass es so schön ist, sich anzusehen, sich gegenseitig von Nahem anzuschauen. Heute Abend hat sie gesagt: ‚Du bedeutest mir was.‘ Mir ist sie auch wichtig, aber ich kann es nicht so gut ausdrücken, und ich kann auch nicht antworten: Du mir auch. Also sage ich gar nichts.“ (S. 60)
Das Ende der Geschichte hat mich ein wenig verwirrt, man kann es so oder so interpretieren. Doch egal, wie man es für sich enden lässt, „Montedidio“ bereichert und macht glücklich. Und dass ich am 31.12. etwas Altes und sinnlos Gewordenes aus dem Fenster werfen werde, das weiß ich ganz bestimmt.