Schlagwort-Archive: Dreißiger Jahre

Robert Seethaler. Der Trafikant – endlich als Paperback

TrafikantZwei Tage ist es her, dass ich den letzten Satz von „Der Trafikant“ gelesen und das Buch glücklich zugeschlagen habe. Das Gefühl, den Duft von Tabak und Druckerschwärze zu spüren, will mich seitdem einfach nicht verlassen. Ich war weit weg … Im Wien der 30er Jahre.

Franz Huchel aus Nußdorf am See ist 17 Jahre alt und hat das Salzkammergut in seinem Leben erst zweimal verlassen. Einmal, um in Linz einen Schulanzug zu kaufen und ein anderes Mal, um mit der Schulklasse nach Salzburg zu fahren.

Aber jetzt sitzt Franz im Frühzug nach Wien und alles ist anders, als es je gewesen ist. Es ist der Spätsommer des Jahres 1937 und er wird von Otto Trsnjek erwartet, um bei ihm in der Trafik auszuhelfen. Ohne große Erklärungen hatte die Mutter gemeint, sie hätte noch einen Gefallen beim Otto offen und dann war alles ganz schnell gegangen.

Begleitet vom zarten Klingeln der Türglocken betritt Franz den Laden. Und weil ihm noch „das halbe Salzkammergut an den Füßen hängt“, wird er sofort erkannt und freundlich mit „Servus, Franzl“ begrüßt. Staub flirrt in schmalen Lichtbalken. Es duftet intensiv nach Tabak, Papier und Druckerschwärze. Otto – ein wunderbarer und herzensguter Mensch – erwartet von Franz lediglich, dass der zur besseren Beratung täglich alle Zeitungen liest. Für Franz eine große Herausforderung, die er sehr ernst nimmt. Die Tage vergehen mit frühem Aufstehen, Zeitungsschau, Verkauf. Noch läuft die Trafik gut. Es ist die Zeit, da die Leute ganz „närrisch“ nach diesem Hitler und nach schlechten Nachrichten sind. Und geraucht und gelesen wird sowieso immer, denkt Otto Trsnjek.

Doch auf der Straße läuft Geschichte im Eiltempo ab. Begleitet vom ewigen Glöckchenbimmeln und dem Tabakduft, tauchen Hitlerfahnen auf, werden Leute verhaftet, Geschäfte demoliert. Mir gefiel beim Lesen, dass Seethaler diese großen Ereignisse draußen vor der Tür nur skizzenhaft andeutet. Dinge, von denen auch die Trafik nicht verschont bleiben wird –

Demgegenüber steht das intensive Innenleben von Franz. Wie er die Großstadt in sich aufsaugt! Wie er lernt, nicht nur die einzelnen Zeitungen und Magazine für Damen, sondern auch die Zigarrensorten zu unterscheiden. Wie er versucht, beim Rauchen der ersten Zigarre ein Mann zu werden. Wie er sich mehr und mehr abnabelt von seiner Mutter, der er Briefe und Ansichtskarten voll Liebe und Respekt schickt. Und wie Franz sich in Anezka, die Varietétänzerin, verliebt. Doch Anezka ist nicht nur drei Jahre älter. Sie ist ihm außerdem an Erfahrungen in Sachen Liebe weit überlegen. Franz ist seinen Gefühlen ohnmächtig ausgeliefert. Vorsichtig und in der Hoffnung auf Hilfe, nähert er sich dem berühmten Sigmund Freud (Stammkunde in der Trafik). Eine zaghafte Männerfreundschaft entsteht zwischen dem Jungen und dem alten Professor.

Seethaler hat einen wahnsinnig guten, einen intensiven, atmosphärischen und (bei aller Tragik) humorvoll erzählten Roman geschrieben. Die Geschichte lässt einen nicht eine Minute unberührt. Zeile um Zeile folgt man den Schicksalen von Franz, Anezka, Otto Trsnjek und Sigmund Freud. Kein Wort zu viel. Keine Szene zu lang. Es ist ein bißchen wie eine Zeitreise. Man hat das Gefühl, für ein paar Stunden dort gewesen zu sein. Im Wien der 30er Jahre. Umhüllt von Tabakduft und Druckerschwärze…..

Robert Seethaler. Der Trafikant. Kein & Aber. Zürich 2014. 256 Seiten. 9,90 €

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Anna Funder. Alles, was ich bin. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke

Funder. Alles, was ich binRuth Blatt, letzte Sekretärin des großen Revolutionärs und Dichters Ernst Toller, erzählt in langen Gesprächen die Geschichte ihres Lebens. Anna Funder sammelt diese Gespräche, bearbeitet sie. Es entsteht „Alles was ich bin“. Eine reale, mit Fiktionen vermischte Geschichte um Liebe und Verrat. Eine Exilgeschichte – wie für die Ewigkeit geschrieben. Immer wieder schließlich müssen Menschen aus politischen oder anderen Gründen ihre Heimat verlassen und ins Exil gehen. Mit großer Klarheit zeigt Anna Funder, was das aber für den Einzelnen bedeutet: Heimat, Freunde und gewohntes Leben über Nacht aufzugeben. Die zentralen Figuren der Geschichte (Dora Fabian, Ernst Toller und Ruth Blatt) sind reale Figuren, denen sich Anna Funder – Anwältin, Autorin und Dokumentarfilmerin – mit großem Einfühlungsvermögen nähert:

„Als Hitler am 30. Januar 1933 an die Macht kam, flohen meine Freundin Ruth und ihre Freunde ins Exil. Von dort versuchten sie, ihn zu stürzen. Das ist ihre Geschichte oder was ich daraus gemacht habe. Sie wurde aus fossilen Bruchstücken rekonstruiert, ganz ähnlich wie man ein Gerüst aus Saurierknochen mit Haut und Federn ergänzen könnte, um das Tier im Ganzen zu sehen. Das sind die Knochen, die ich gefunden habe. Die Namen der meisten Charaktere sind authentisch, andere wurden geändert.“ (Seite 421)

Vorerst sind wir in einer Berliner Wohnung am Schiffbauerdamm. Ruth liegt in der Badewanne, ihr Mann Hans mixt in der Küche Mojitos, als im laut aufgedrehten Radio – begleitet von wellenartigem Jubelgeschrei – verkündet wird, dass Hitler soeben an die Macht gekommen sei. Ruth entrollt eine kleine rote Fahne und hängt diese zum Fenster heraus. Ohne große Worte wissen wir nun auch sofort, auf welcher Seite Ruth, Hans und ihre Freunde stehen. Die Situation spitzt sich dramatisch zu. Die wechselnden Perspektiven von Ruth und Toller zeigen den einen Ausweg mehr als deutlich: in Berlin und Deutschland gibt es für sie als Intellektuelle keine Alternative mehr.

Das eigentliche Drama dieser Story beginnt aber, nachdem ihnen die Flucht ins britische Exil gelungen ist. Denn, was tun in einem Land, dessen Sprache man kaum oder gar nicht versteht? Wie Geld verdienen als deutscher Journalist, Lyriker, Dichter, Redakteur? Irgendwann geht es nur noch ums Überleben – also doch Scotland Yard seine Dienste anbieten? Für manch einen war das die einzige Option. Für andere wieder ein totales Tabu, wusste man doch außerdem, dass Scotland Yard und die Gestapo eng zusammen arbeiteten. Ein Punkt, auf den ich später noch kurz eingehen möchte.

Die hier geschilderten Schicksale berühren in ihrer Einzigartigkeit. Da ist die zierliche Dora. Hektische Raucherin. Sekretärin und Geliebte von Toller. Ihre Cousine Ruth ist zwar besonnener und vorsichtiger, aber ebenso voller Engagement und Ideenreichtum. Und natürlich Ernst Toller selbst, der mit machtvollen Worten ein Nazideutschland verhindern will. Alle zusammen sind sie wild entschlossen, Hitler zu stürzen.

Über der Story schwebt nun ein beständiges Gefühl aus Angst. Angst vor einer undefinierbaren Macht. Eine komplexe Maschinerie scheint beständig in Gang zu sein. Begleitet von einem Gefühl der Bodenlosigkeit, glaubt man bald auch als Leser, von außen gesteuerte unsichtbare Türen und Fallklappen könnten sich jeden Moment öffnen und alles verschlingen. Drohbriefe, stumme Anrufe, Schatten, verräterische Blicke verstärken dieses diffuse Gefühl. Ernst, Dora, Ruth und ihre Freunde sind in ständiger Gefahr. Nur dass diese Gefahr eben so schwer greifbar ist. Doch konnte schon ein falscher Satz oder eine unbedachte Bemerkung gegen Nazideutschland bedeuten, dass ein freundlicher Mitarbeiter von Scotland Yard in Zivil sich plötzlich an den Redenden wendet und ihm den Ausweis und die Aufenthaltsgenehmigung entzieht.

Beide – Scotland Yard und die Gestapo in Deutschland – haben eng zusammen gearbeitet. Politische Aktionen deutscher Flüchtlinge in London wurden mit Entzug der Ausweispapiere und Verweisung nach Deutschland geahndet. Der Betreffende hatte 72 Stunden Zeit – plötzlich stand er illegal auf britischem Boden. Für manche war diese Situation nervlich unaushaltbar. Sehr eindrücklich beschreibt Anna Funder das in einer Szene auf Seite 265, als Hans in schriller Verzweiflung ruft, dass er Krieg und Schlamm und Schmutz und Blut und Kampf und Sterben aushalten könne. Nicht aber dieses Unsichtbare, dieses Warten und das Gefühl der Nutzlosigkeit. Und niemand, keine Instanz, kein Amt, das hilft. Niemand, der Hilfe und Schutz anbietet.

Anna Funder ist mit „Alles was ich bin“ etwas ganz Besonderes gelungen. Einerseits nämlich gibt sie einem das Gefühl, einen Roman, eine tragisch-schöne fiktive Geschichte zu lesen. Andererseits erinnert sie durch geschicktes Einarbeiten historischer Fakten daran, dass die Story so oder so ähnlich geschehen ist.  Sie zeigt Mut und Entschlossenheit ihrer Figuren, aber auch Schwäche und Verzagtheit bis hin zum Versagen – doch ohne zu verurteilen. Damit berührt und schockiert „Alles was ich bin“ gleichermaßen. Und lässt einen lange Zeit nicht los.

Anna Funder. Alles was ich bin. S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Main 2014. 428 Seiten