Der November ist irgendwie genau dafür gemacht: Auf dem Sofa liegen, einen guten Tee trinken und einen Klassiker lesen. Romane klassischer Autoren liegen bei mir auf einem Extra-Stapel. So musste ich nicht lange suchen und die Entscheidung ist mir ganz leicht gefallen. Als ich nämlich diese wirklich schöne neu übersetzte Diogenes-Ausgabe in die Hand genommen habe.
Obwohl die Story oftmals von Charme und Witz bestimmt wird, beginnt sie zunächst mit einem ziemlich düsteren Prolog. Es sind die letzten Tage des Krieges. Das Lager der englischen Armee liegt in grauem Dunst. Der Ich-Erzähler Charles Ryder ist zutiefst demoralisiert. Gründe dafür sind nicht nur die sinnlosen Kämpfe. Es sind außerdem der Verlust der Jugend sowie eine verlorene Liebe. Lakonisch hören wir ihn sagen: „Hier, mit neununddreißig Jahren, begann ich alt zu werden.“ Er glaubt, dass es eine trostlosere Szene als diese nie geben könnte – egal, was in seinem Leben noch vor ihm liegen sollte.
Dann wird seine Brigade in ein altes, leerstehendes Landhaus mit Freitreppe und riesigem Springbrunnen verlegt. Charles sagt, er sei schon einmal hier gewesen. Mit dieser Bemerkung endet der Prolog, man blättert um und ist jetzt richtig in der Story drin.
„‚Ich war schon einmal hier‘, sagte ich. Ja, ich war schon hier gewesen, zum ersten Mal mit Sebastian vor mehr als zwanzig Jahren an einem wolkenlosen Tag im Juni … ein außergewöhnlich schöner Tag, und obwohl ich so oft und in so unterschiedlichen Stimmungen hier gewesen war, kehrte mein Herz bei diesem meinem letzten Besuch zu jenem ersten zurück.“ (S.39)
Evelyn Waugh sagt hier bereits so viel! Zuerst erfahren wir, dass es im Leben von Charles eine sehr glückliche Zeit gegeben haben muss. Und dass damals, in den Zwanziger Jahren, sein Glück verbunden war mit jenem Ort. Er nimmt voraus, dass er am Ende der Geschichte, die zu erzählen er bereit ist, den Ort nie wieder betreten wird. Weil der Schmerz über die schönen Erinnerungen zu groß und die Trauer um das unwiederbringlich Verlorene zu tief sind.
Sebastian, exzentrischer und gutaussehender Sohn des Marquis von Marchmain, war für zehn Jahre nicht nur der beste Freund sondern auch die große Liebe von Charles. Mit dem Verlust der Freundschaft zu Sebastian hat Charles jegliche Inspirationen verloren. Er spricht von der unglaublich tiefen Leere nach dem Verlust. In den 30er Jahren reist er deshalb nach Lateinamerika, sucht nach neuen Inspirationen, beginnt zu malen. Nach außen hin wirkt sein Leben aufregend und abwechslungsreich. Doch lebendig fühlt Charles sich nicht, findet weder im Malen noch in der Ehe sein Glück. Sondern in verträumter Nostalgie:
„Mein Leitmotiv ist die Erinnerung, jener geflügelte Schwarm von Bildern, der mich an einem grauen Morgen im Krieg umgab. Diese Erinnerungen, die mein Leben ausmachen – denn nichts gehört uns so gewiss wie unsere Vergangenheit – hatten mich nie verlassen. Wie die Tauben von St. Markus waren sie überall zu meinen Füßen, einzeln, zu zweit, in kleinen gurrenden Gruppen, nickten, stolzierten und blinzelten sie.“ (S. 331)
Mit seiner Frau (den Namen erfahren wir nie, er nennt sie nur meine Frau, was einiges aussagt) ist er irgendwann unterwegs auf einem Schiff von Amerika nach England. Dort begegnet Charles Julia, Sebastians Schwester. Dass sich beide dort begegnen und eine Affäre haben werden, erfahren wir Seiten vorher! In einem einzigen lapidar hingeworfenen Satz lässt Waugh Charles sagen: „Das alles erzählte sie mir zehn Jahre später während eines Sturms auf dem Atlantik.“ (S. 296) Wieder endet ein Kapitel, atemlos liest man weiter.
Waugh schafft es wirklich, seinen Leser zu fesseln und zu verzaubern. Obwohl er präzise und schnörkellos erzählt. Mit jedem Satz spürt man die tiefe Liebe zu seinen Figuren. Besonders fasziniert hat mich, dass er für die Entstehung des Romans lediglich 5 Monate benötigt hat. So erfährt man im Nachwort, dass er sich vom Leitenden Offizier seiner Brigade für drei Monate eine unbezahlte Dienstfreistellung erbeten und sie bekommen hat! Er begründet die Freistellung u.a. damit, dass er im zivilen Leben Romancier sei und in seinem Kopf ein neuer Roman dermaßen viel Raum einnehme, dass er nicht mehr zu 100 % seine Pflicht in der Armee erfüllen könne. Am 1. Februar 1944 – die Alliierten rücken mit großen Verlusten gegen Deutschland vor – beginnt Evelyn Waugh mit seinem Roman. Am 16. Juni 1944 schreibt er den Epilog. „Wiedersehen mit Brideshead“ in der Rohfassung ist fertig. Heute liegt der Roman in dieser wunderbaren Neuübersetzung vor. Und hat es geschafft, mir ein wenig Licht und ganz viel Glück in die tristen Novembertage zu zaubern.