Archipel von Inger-Maria Mahlke

Herbstspaziergang in Kreuzberg. Mit einem Buch unterm Arm. Auf der Suche nach der perfekten Bank … Welchen Roman würde ich wohl heute lesen, hätte Inger-Maria Mahlke den Deutschen Buchpreis nicht gewonnen? Egal. Ich lese Archipel und ich lese ihn gern. Irgendwie lässt er mich ja auch nicht los. Trotz der Schwierigkeiten, die ich damit habe. Schwierigkeiten mit der Rückwärtsentwicklung der Figuren und mit deren Namen, welche ich mir schwer merken kann. Ada oder Ana? Julio oder Jose. Oft muss ich im Personenregister nachschauen. Ausserdem im fünfseitigen Glossar mit der Erklärung der spanischen Begriffe.

Wenigstens ist mir der Ort vertraut, denn ich war schon auf Teneriffa. Bin mit dem Auto bis fast auf die Spitze des berühmten Pico del Teide (dritthöchster Inselvulkan der Erde!) gefahren. Ich weiß, wie grünes oder rotes Mojo und Papas arrugadas schmecken. Der berühmte feine Nieselregen ist mir bekannt und ich habe die Chumberas gesehen – Kakteen, die massenhaft von der Cochenilleschildlaus befallen sind. Diese Schildlaus gab früher die rote Färbung für Campari.

Ganz im Gegensatz zur kargen aber traumhaft schönen Nachbarinsel Lanzarote ist das Bild des heutigen Teneriffa geprägt von endlosen Autobahnen, Geröll, Kakteen, Tourismus. Denkt man sich die Autobahnen und die Touristen weg, ist man um ein paar Jahrzehnte zurück versetzt. Die Leute fahren Fahrrad oder Bus, man geht viel zu Fuß. Das Meer spielt kaum eine Rolle, die Menschen sind mit ihrem harten Alltag beschäftigt.

Bis ins Jahr 1919 geht es zurück in Mahlkes Geschichte. Ein interessantes Gedankenspiel, dem ich dennoch schwer folgen kann. Ich kann mit den Figuren nicht „wachsen“, kann nicht erleben, wie sie klüger, mutiger oder melancholischer werden. Was das Leben mit ihnen macht. Die Figuren prägen sich mir einfach nicht ein.

Mir fallen sofort Romane aus den letzten Wochen ein, die mir noch immer sehr präsent sind. Ich denke an Eva Bruhns aus dem Roman Deutsches Haus von Annette Hess, an Sala und Otto aus Christian Berkels Apfelbaum, an die gesamte liebenswert schrullige Familie aus Maxim Billers Sechs Koffer oder aktuell an Sönke und Ingwer Feddersen aus Dörte Hansens Mittagsstunde. Sie alle sind gedanklich noch in meinem Kopf.

Die Figuren aus Archipel kommen mir einfach nicht nahe. Fast bis ans Ende nicht. Auf den letzten Seiten schließlich geschieht ein kleines Wunder, das mich berührt und das mich mit dem Roman versöhnt. Wenn in der Silvesternacht 1919 der kleine Julio geboren wird. Julio? War das nicht der Alte vom Romananfang? Julio, el Portero – der Wächter vom Asilo? Und schon überfliege ich erneut die ersten 70 Seiten, bin gefesselt, erkenne Ana und Rosa wieder. Das hat schon was, ja!

Mahlke beschreibt das pure Leben. Mit allen seinen Tücken und schönen Momenten. Der Mensch steht in diesem Rückblick zum Anfang des vorigen Jahrhunderts immer im Mittelpunkt. Britische Kolonialisierung, Franco, politische Gruppierungen bleiben Randerscheinungen. Sie kommen und gehen. Tangieren das Leben der Familien nur gering. Man muss sich anpassen, um zu überleben.

Inger-Maria Mahlke hat dieses Leben und Überleben auf besondere Weise eingefangen und beschrieben. Man spürt mit jeder Zeile ihre persönliche zarte Verwurzelung mit Teneriffa. Vielleicht lese ich Archipel irgendwann ein zweites Mal und entdecke dabei Akzente und Details, die mir diesmal entgangen sind. Und vielleicht bin ich beim zweiten Mal ja restlos begeistert und glücklich. Für heute tröstet mich ein Satz, den ich gerade auf dem Blog vom Kaffeehaussitzer gelesen habe:

aber die Beschäftigung mit Literatur ist naturgemäß stets subjektiv.

Als Jurymitglied hat Uwe alle sechs Shortlist-Titel ein zweites Mal gelesen, bevor die Entscheidung gefallen ist. Er erzählt auch vom Buchpreisblues – der Zeit nach dem Buchpreis-Lesen. Warum ich euch seinen Text aber ganz besonders empfehlen möchte: Es gibt Leseprojekte an Schulen zum Deutschen Buchpreis! Schaut mal auf seinem Blog. Es lohnt sich sehr.

Inger-Maria Mahlke. Archipel. Rowohlt Verlag GmbH. Reinbek bei Hamburg 2018. 423 Seiten. 20,- €

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4 Antworten zu “Archipel von Inger-Maria Mahlke

  1. Liebe masuko,

    danke für deine Rezension! Ich bin noch sehr hin- und hergerissen, ob ich in das Buch eintauchen möchte.

    Ich mochte seinerzeit ihr Debüt „Silberfischchen“ (Rezi auf meinem Blog), und weiß, was mich erwartet. Die Autorin hat einen speziellen Stil, den man mögen muss.

    Zudem macht der wundervolle Spiegel Artikel von Takis Würger sehr neugierig auf das Buch. Und zeigt obendrein ein sympathisches Bild über die Autorin.

    Doch es häufen sich die anstrengenden Leseeindrücke (vor allem von geschätzten Kolleginnen, mit denen ich oft auf einer Lesewelle surfe), so dass ich erstmal abwarte. Ist ja nicht so, dass ich nichts zu lesen hätte. 😉

    Jetzt freue ich mich erstmal auf Dörte Hansens neues Buch, das dir offenbar gefallen hat.

    Liebe Grüße

    Klappentexterin

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    • Liebe Klappentexterin,
      schönes Bild mit dem Surfen! Und da ich deinen Lesegeschmack ein wenig kenne, denke ich, das könnte ein unvergessliches, aber sehr gefährliches Surfabenteuer werden mit vielen Monsterwellen 🙂
      Den Artikel von Takis Würger im SPIEGEL habe ich auch gelesen, er hat mich überhaupt zum Weiterlesen und schließlich zu meinem Herbstspaziergang inspiriert. Es stimmt, das Ende ist wundervoll und berührend. Genau, wie Takis es gesagt hat!
      Mit Dörte Hansen tauche ich nun weiter ab. Ins platte Land nach Brinkebüll. Wo mir auch Vieles sehr fremd ist. Und doch gleichzeitig unendlich vertraut. Einen lieben Gruß nach Leipzig!

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  2. Liebe Masuko,
    Ich habe „Archipel“ auch gerade heute beendet. Ich mochte sehr diese Art des Erzählens, das immer bei – scheinbar- alltäglichen Dingen anknüpft und vor diesem sehr genau erzählten Hintergrund dann ein oder gar zwei andere Aspekte erzählt werden, die die Figur gerade beschäftigen. Dadurch entstehen ganz intensive Momente.
    Ich stimme dir aber auch zu, wenn du schreibst, dass diese rückwärts gerichtete Art des Erzählens eben nicht zulässt, dass man Figuren beobachten kann und ihre Entwicklung erkennt, dass vor allem eine Identifikation mit ihnen stattfinden kann. Aber doch: es wird beim Fortschreiten des Lesens erkennbar, warum die Figuren vorher so oder so gehandelt, gedacht oder gefühlt haben. Das ist auf jeden Fall eine andere Art der Entwicklung, die wir hier nachvollziehen können.
    Anders als du aber finde ich die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen auf Teneriffa und in Spanien schon wichtig und mit Einfluss auf die Figuren: Ada, die verwöhnte reiche Tochter, Julio, der bei den politischen Unruhen seinen Bruder verliert usw. .
    Insgesamt also hat mich die Lektüre schon gepackt. Immerhin konntest du dich zum Ende auch noch ein bisschen mit dem Roman versöhnen.
    Viele Grüße, Claudia

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    • Liebe Claudia, obwohl ich mir viel Zeit und Ruhe für „Archipel“ genommen habe, habe ich beim Lesen deiner Zeilen das Gefühl, dass ich einige Aspekte nicht so intensiv wahrgenommen habe, wie du. Danke also für deinen ausführlichen und sehr bereichernden Kommentar. Bin gespannt, wie du es auf dem Blog besprechen wirst. Mal sehen, was ich dann noch alles entdecken werde. Schöne Grüße, Masuko.

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