Eve Harris. Die Hochzeit der Chani Kaufman

Harris_Chani_KaufmanChani Kaufman ist blaß, dunkelhaarig, schlank und äußerst klug. Sie lebt im heutigen London und ist 19 Jahre alt, als sie heiratet. Die Ehe mit Baruch – so hofft sie – wird sie aus der bedrückenden familiären Enge im Haus ihrer Eltern führen. Neugierig lese ich die ersten Sätze dieser mir unbekannten Autorin, bin sofort gebannt und gerate immer tiefer hinein in diese mutige und klug erzählte Geschichte, die ich schließlich bis zum letzten Satz atemlos verschlinge.

Reglos stand die Braut da, unter Lagen kratziger Petticoats wie zur Salzsäule erstarrt. Schweiß lief ihr den Rücken hinunter … Jetzt war es soweit. Dies war ihr Tag. Der Tag, an dem ihr Leben endlich begann. Sie war neunzehn und hatte noch nie die Hand eines Jungen gehalten (S. 7).

Doch auch die Mehrzahl der Jungen in dieser jüdisch-orthodoxen Gemeinde Londons ist erschreckend unerfahren. Diese Jungen wissen NICHTS! Mit 20 Jahren stolpern sie in eine Ehe, die meist arrangiert wird, und wissen nichts über Hormone, über Sex, über Frauen. 

Doch zurück in die Synagoge zu Chani … Von Mutter zu Tochter und von Schwester zu Schwester war das Kleid allen immer ein treuer Freund gewesen, … zeugte von der Reise einer weiteren Braut, zeichnete ihre Hoffnungen und Wünsche nach … Kalte, kribbelnde Spannung, das Aufblitzen weißer Laken und das riesige Bett, das auf sie wartete, erfüllten die Gedanken jeder Braut. Wie wird es sein? Wie wird es sein? Diese Frage pulsierte in Chanis Kopf (S. 8/9).

Chani als Hauptfigur dieses Romans ist ein Mädchen, das alles überstrahlt und mit seinem Charme und seinem klugen Witz zum Sinnbild von Mut und Aufrichtigkeit wird. Ein typisch jüdisches Mädchen beugt sich willenlos, nicht aber Chani Kaufman! Unbeirrbar geht sie ihren Weg. Aus tiefstem Herzen wünsche ich ihr, dass sie glücklich werden möge. Baruch und sie gehen mit unendlich viel Respekt miteinander um.

In Rückblicken und aus verschiedenen Blickwinkeln lerne ich außerdem Avromi, Rebecca, Chaim und Shola kennen. Auch Rebecca und ihr Sohn Avromi gehen im Verlauf der Geschichte sehr mutige Wege. Vor 20 Jahren hatte Rebecca sich in Israel verliebt. Sie konvertiert und nennt sich Rivka. Streng befolgt sie alle Regeln der jüdischen Religion und heiratet tief verliebt ihren Chaim. Unter der ewigen Sonne Jerusalems tauscht sie ihre Jeans gegen lange Röcke und die Sneakers gegen Ballerinas. Ihr offenes langes Haar wird zukünftig bedeckt von einem Scheitel (Perücke, um die Sittsamkeit zu bewahren). Doch zurück in London als Rabbi und Rebbetzin Zilberman ist das Leben jeglichen Zaubers beraubt und Rivka wird über die Jahre verbittert. Ihr Sohn Avromi ist es schließlich, der sie daran erinnert, wer sie selbst einmal gewesen ist. Dass sie als junge Frau unabhängig war und frei. Auslöser des Dramas und der schließlichen Befreiung Rebeccas aus den religiösen Zwängen ist das Mädchen Shola, in das Avromi sich heftig verliebt. Shola ist eine Gojim, eine Nichtgläubige – was ihn in tiefste Glaubenszweifel stürzen lässt. Sein Vater Rabbi Chaim reagiert unversöhnlich und zeigt dem Sohn mit aller Macht und Härte, dass die Religion über dieser tiefen jungen Liebe steht. Die ehrlichen Gefühle von Avromi und Shola werden nicht akzeptiert. Und was, wenn auch Shola einfach konvertieren würde? Hier ist es schließlich Rebecca, die ihr in aller Klarheit sagt, wie sehr sie sich diese Entscheidung überlegen müsse. Denn einfach jemand anderem zuliebe konvertieren  – die Rabbis würden wenig davon halten. Konvertieren bedeute außerdem drei bis sieben Jahre intensives Studium, Leben in einer orthodoxen Familie, Erlernen aller Bräuche und sie müsse koscher bleiben. Konvertiert sie nicht, könne sie mit Avromi nicht zusammen sein. Ein Konflikt, der unlösbar scheint.

An dieser Stelle des Romans wir mir klar, wie sehr der Glaube zur Gefahr einer ehrlichen Beziehung werden kann. Eve Harris geht offen und respektvoll um mit den hochsensiblen Themen Glauben und Religion. Mit schonungslosem Blick und doch gleichzeitig voller Liebe mit den Figuren. Denn auch Chaim hat seine Gründe, welche ihn dazu bringen, sich so absolut durchzusetzen. Ihn zu verurteilen wäre zu einfach. Harris erzählt so, dass ich verstehe, was Chaim bewegt. Ich spüre, dass die Autorin erlebt hat, wovon sie erzählt. Ganz besonders natürlich in den weiblichen Figuren Chani, Rebecca und Shola.

Eve Harris ist 1973 als Tochter polnisch-israelischer Einwanderer geboren. Sie lebt in London und hat viele Jahre an katholischen und jüdisch-orthodoxen Mädchenschulen in London und Tel Aviv unterrichtet. Ihr Roman stand auf der Longlist für den berühmten Man Booker Prize 2013 und war Finalist für den National Jewish Book Award 2014.

Eve Harris. Die Hochzeit der Chani Kaufman. Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt. Diogenes Verlag Zürich 2015. 453 Seiten. 16,- €

8 Antworten zu “Eve Harris. Die Hochzeit der Chani Kaufman

  1. Das Buch hört sich wunderbar an! Ich habe vor einigen Jahren „Die Romanleserin“ gelesen, das Thema ähnlich wie oben, allerdings waren die Protagonistinnen etwas jünger, sodass sie noch nicht um ihre Liebe, sondern um Dinge wie Rettungsschwimmerinnen werden oder Romane lesen gekämpft haben. Ich halte es für schwierig für Autoren, die Spannungen, die Religion verursachen kann, sensibel und rücksichtsvoll anzugehen. Schön, dass es hier offenbar so gut gelungen ist.

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  2. Ein wundervoller Roman. Eve Harris schafft es, dass man sich beim Lesen oft fühlt als würde man hinter ihr stehen. Erschreckend und bedrohlich fand ich die Schwiegermutter, gerade auch kurz vor der Hochzeit. Das Buch zeigt, dass Religion, aber ich denke auch dieses junge Alter, Zwang zu Entfremdungen eines Paares oder Menschen im allgemeinen führen kann. Ich fand in diesem Buch den Glauben, die Werte daran oft als Käfig. Aber Chani Kaufmann ist wirklich stark und eine Protagonistin, die auch unvergesslich für mich ist. Eine schöne Besprechung Masuko.

    Herzlich.

    Die Gedankenlabyrintherin.

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    • Du hast es also auch schon gelesen und mochtest Chani als starke mutige Frau. Schön!
      Vielleicht ist es gar nicht so sehr der Glaube selbst, sondern es sind die Rituale und strengen Regeln, die die Menschen einengen. Koscheres Essen, Perücke für Frauen, getrennte Betten … Wo bleiben Freude und Spaß? Das habe ich mich beim Lesen auch gefragt.
      Schöne Grüße, Masuko

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      • Ja, ich hatte es bei einem Blog gelesen und es dann gleich geholt und bin schnell darin versunken. Du hast es wirklich treffender ausgedrückt. Ich wollte erst Traditionen sagen, aber diese können auch schön sein. Chani ist so eigensinnig, jung aber etwas extravagant, wie ich finde und mir damit so sympathisch. Ich bin generell gegen die Ehe, da Liebe weder ein Schriftstück, noch Ringe benötigt. Solche Bücher sind wichtig, machen nachdenklich. Nicht überall können Menschen lieben und dann frei entscheiden einen gemeinsamen Weg zu gehen. Definitiv ist dieses Buch in meinen 20 Lieblingsbüchern des Jahres.

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