Einen schönen Zufall erlebe ich heute beim Lesen, der so eigentlich nur in Romanen passiert! Eine Woche nach der traurigen Nachricht vom Tod der algerisch-französischen Autorin Assia Djebar am 7. Februar, lese ich ihren Roman „Das verlorene Wort“. Nicht ohne Schreibblock und Bleistift neben mir. Eine besondere Stelle im Roman, wo Berkane etwas notiert, will ich unbedingt zitieren und entdecke, er hat seinen kleinen Text mit dem heutigen Datum überschrieben. Es geht um das Schreiben und um die Liebe (S. 154):
14. Februar
Schreiben ist ein Zwang: Wenn das geliebte Wesen fehlt und du es nicht vergessen kannst, beginnst du zu schreiben, um so die Verbindung aufzunehmen! Ich schreibe, von Nadija heimgesucht, und hoffe, dass sie meine Stimme erkennt, wenn sie dies eines Tages liest, und sei es am Ende der Welt! Es ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht ganz ausgeschlossen.
Berkane, in Algerien geboren, hat 20 Jahre im Exil in Frankreich verbracht und kehrt nun voller Sehnsucht in sein geliebtes Heimatdorf zurück. Er ist etwa 50 Jahre alt und möchte von diesem Tag an in seinem Haus am Meer leben und einen Roman schreiben. Doch die Erinnerung an die Vergangenheit lässt ihn nicht los, ergreift ihn machtvoll und reißt Berkane mit sich. Tragische Bilder von Krieg und Folter in den 50er und 60er Jahren erwachen vor seinem inneren Auge. Doch auch wunderschön und sehr poetisch beschriebene Momente aus Berkanes Kindheit tauchen auf, so wie die Erinnerung an die Frauen aus seinem Ort: Da gab es Passantinnen im weißen Schleier aus Seide oder Satin, die dich mit kholgeschwärzten Augen offen anblickten, über den Gesichtsschleier hinweg, der steif auf ihrem Nasenrücken saß (S. 58).
Dies sind dann die Momente im Roman, wo ich das Buch zuschlagen, meinen Koffer schnappen und losreisen möchte. Nach Nordafrika. Ich will thé à la menthe – süßen Minzetee – trinken, dem Ruf des Muezzins aus einer nahen Moschee lauschen, frisch gebackenes Fladenbrot knabbern. Ich will dem leisen Rauschen des Meeres lauschen. Und genau das will auch Berkane, doch gelingt es ihm nicht. Wie tragisch er mit seiner Vergangenheit verknüpft ist, das erfährt man am Ende des Romans, wenn sein Wagen an einem Unfallort ohne ihn aufgefunden wird –
Assia Djebar, die große Autorin des Maghreb, beschreibt die Zerrissenheit ihrer Heimat Algerien auf besondere Weise. So verwebt sie die politischen und religiösen Auseinandersetzungen mit der Liebesgeschichte zwischen Berkane und Nadija zu einem feinen Teppich. Ich als Leser kann auf diese Weise die harten Fakten „aushalten“. Gleichzeitig schafft Djebar unvergessliche Bilder. Wenn sie beschreibt, wie Nadijas Augen lachen zwischen Berkanes Händen und er den Saum ihrer Lippen mit dem Finger nachfährt. Wenn Djebar dieses Dich kennen bis zur Ermüdung beschreibt.
Nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich experimentiert die Autorin. Bilder der arabischen Sprache werden vermischt mit algerischen Dialekten und Worten, die es wiederum nur auf Französisch gibt. Wie beispielsweise der Begriff Laizismus – ein Wort, das im Arabischen in den 60er Jahren unbekannt ist. Mit diesem Roman ist mir Assia Djebar so richtig ans Herz gewachsen. Die Melancholie ihrer Sprache, ihre Liebe zur Kasba – der Altstadt Algiers – und auch die Beschreibung der Gefühle von Zerrissenheit in der Fremde hallen noch lange in mir nach.
Assia Djebar. Das verlorene Wort. Aus dem Französischen von Beate Thill. Unionsverlag Zürich 2003. 249 Seiten. 9,90 €
was für eine Rezension…einen Moment sprachlos. Danke.
LikeGefällt 1 Person
Was für eine schöne Besprechung…es ist lange her, dass ich was von ihr gelesen haben, aber ich kriege jetzt sofort Lust dazu! Und wie traurig, dass sie jetzt nichts mehr schreiben wird…
LikeLike
Das ist wirklich traurig. Doch uns glücklichen Lesern bleiben all ihre Bücher.
Schöne Grüße, Masuko
LikeGefällt 1 Person
Liebe Masuko,
ich habe noch nie etwas von dieser Autorin gehört, Deine Beschreibung Ihres Buches klingt aber so verlockend, dass ich es sofort lesen möchte. Du weißt ja, Deine besonderen Entdeckungen sind meistens das Richtige für mich. Bin sehr gespannt.
LG
lesesilly
LikeLike
Also, wenn du Elif Shafak und Zülfü Livaneli mochtest, liebe leselilly, könnte das passen. In der Sprache ist Assja Djebar vielleicht experimenteller. Sie war auch viele Jahre ein Favorit für den Nobelpreis für Literatur.
Liebe Grüße, Masuko
LikeLike
Eine schöne Besprechung und diese Autorin klingt sehr interessant. Habe leider noch ie etwas von ihr gelesen, aber das Buch kommt auf jeden Fall auf die Liste. Schade, dass sie gestorben ist, aber anscheinend hat sie ja einige gute Bücher hinerlassen.
Danke für die Besprechung und liebe Grüsse
Kai
LikeLike
Ich lese einfach gern Bücher zu diesem Thema. Besonders aus der Sicht einer Frau. Assia Djebar lohnt sich unbedingt. Schon deshalb, weil sie beide Welten erlebt hat: Europa und den Maghreb.
Auch an dich liebe Grüße, masuko
LikeLike