Frei von jeglicher Erwartung und und ohne Voreingenommenheit lese ich Unterwerfung. Ich habe bisher keine einzige Rezension gelesen, keine andere Meinung gehört. Ich möchte mich diesem Buch ganz offen und frei annähern. Es beginnt im Paris des Jahres 2022 mit dem 45-jährigen François, Literatur-Professor an der Sorbonne. Er trinkt gern Alkohol bis zur Besinnungslosigkeit, raucht leidenschaftlich und findet junge Studentinnen extrem sexy. Ihn erregt ihre Art zu reden, ihn erregen ihre Miniröcke und die knappen Tops.
François hat eine jüdische Geliebte, die 20-jährige Myriam. Als Myriam überstürzt mit ihrer Familie nach Tel Aviv auswandert, setzt bei François das Grübeln ein. Er bemerkt, wie sehr Myriam ihm fehlt und wie schwer es sein wird, eine Frau zu finden, die ist wie sie. Er ahnt, dass sie nie zurückkehren wird. In einem Brief aus Israel schreibt Myriam, wie seltsam es doch sei, Frankreich zu verlassen, weil man fürchtete, dort in Gefahr zu sein, um in ein anderes Land auszuwandern, in dem die Gefahr real und greifbar war. Spätestens an dieser Stelle des Romans habe ich eine Gänsehaut, denn als Folge der gegenwärtigen Attentate in Frankreich wandern jetzt viele Juden aus!
François bemerkt auch, dass der Verband jüdischer Studenten Frankreichs auf keinem Campus in Paris mehr gegenwärtig ist und dass der Jugendverband der Bruderschaft der Muslime immer stärker präsent wird. Nicht nur Frankreich verändert sich, auch in England, Holland und Deutschland gehören nationale muslimische Parteien der Regierungskoalition an. Wieder Gänsehaut! Ich lese dennoch weiter. Denn Unterwerfung löst einen Sog in mir aus, dem ich unmöglich widerstehen kann. Houellebecq treibt mich unerbittlich weiter und ich muss wissen, wie diese Vision endet. Frauen tragen nun Hosen und lange Baumwollblusen. Alles geschieht ganz im Stillen. Da ist niemand, der sich gegen diese Vereinnahmung wehrt. Keiner, der aufbegehrt, keiner, der für die Demokratie kämpft. Was ist mit den Werten der französischen Revolution? „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – Liberté, Égalité, Fraternité“? Für ein dreifaches Gehalt von der neuen Regierung – Schweigen. Es findet eine kollektive Unterwerfung statt.
Ist es deshalb beängstigend? Irgendwie nicht, denn immer sage ich mir, dass es eine Vision, ein Gedankenexperiment, eine ziemlich verrückte Fiktion ist. Und dann entdecke ich mit dem Blick von François Chancen in dieser neuen Welt. Chancen, das alte Europa zu retten. Alte Traditionen bekämen wieder eine Bedeutung. Man würde respektvoll miteinander umgehen, ganz besonders mit Alten und Kranken. Während der Gespräche mit seinem zum Islam konvertierten Freund Rediger verändert François sich. Rediger, der den Koran studiert hat, empfiehlt François, sich eine Lesung der Suren anzuhören. Ihren Rhythmus, ihren Odem zu fühlen sei reine Poesie, eine Einheit von Klang und Sinn, die es ermöglicht, die Welt zu erzählen. Den Koran beschreibt Rediger als lange schwärmerische Lobeshymne.
Selten gehe ich mit François konform. Ich begehre innerlich auf, wenn er seine sexuellen Eskapaden und Phantasien beschreibt, wenn er an seinen Alkoholexzessen fast krepiert. Als François dann später mit der Vorstellung spielt, er könne nach dem Konvertieren bis zu vier Ehefrauen haben, frage ich mich, würde er auch auf Alkohol und Drogen verzichten? Vielleicht –
Denn irgendwo tief in seinem Herzen ist François bereit für Veränderung. Ich entdecke in ihm einen zweifelnden Mann, der Ruhe sucht. Einen alternden und müden Helden, der endlich irgendwo ankommen möchte. Danke, Michel für diesen Roman. Und danke an den DuMont Verlag für seine Veröffentlichung.
All den großartigen Besprechungen im Feuilleton möchte ich noch ein kleines Statement hinzuzufügen, wozu mich der begeisterte Houellebecq_Text Literarische Helden bei Buchrevier inspiriert hat. Ja, ich stimme dem komplett zu. Und Houellebecq zu lesen – das ist Kult. Ein Autor – so herrlich unangepasst, so grandios offen und provozierend. Ich denke, es ist jetzt endlich Zeit für Ausweitung der Kampfzone und Karte und Gebiet.
Michel Houellebecq. Unterwerfung. Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek. DuMont Verlag Köln 2015. 279 Seiten. 22,99 €
Ich habe das Buch genau so gelesen, wie du es gedanklich entwirfst.Das einzige was ich gelesen hatte, war der Name des Autors und das Thema des Buches.Meine Vermutung: vielleicht ist es befriedigender sich vorher mit Büchern dieser Art zu beschäftigen. Jetzt nach dem Lesen deiner Rezension und Anderer bedaure ich fast meine Buchverlosung, die einer kindlichen Entäuschung über ein gehyptes Buch entsprang. Vermutlich war ich zu oberflächlich an den Roman herangegangen. Ich werde es noch einmal lesen. Danke für deine Rezension.
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Man sollte das Buch sicher trennen von all der Aufregung, stimmt. Ich könnte mir vorstellen, dass Houellebecq das genauso sieht. Einen schönen Sonntag, Masuko
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Habe gestern mit „Unterwerfung“ angefangen und bin bis dato sehr angetan. Erstaunlicherweise ist es mein erster Houellebecq.
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Geht mir fast genauso! Bisher hatte ich nur „Lanzarote“ gelesen. Aber das könnte sich nun ändern. Bin gespannt, ob dir „Unterwerfung“ auch weiterhin gefällt.
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Gefällt mir, wie Du Deine Eindrücke schilderst. Das ist der Vorteil beim Literatur-Bloggen. Man kann viel subjektiver sein. Danke auch für die Erwähnung!
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Du warst schließlich der Auslöser für eine Rezension, die bereits in mir schlummerte. Wie eine Sylvester-Rakete, die darauf wartet, dass man die Zündschnur entflammt. Wie konnte ich dich da einfach unerwähnt lassen 🙂
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💣🚀😀
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Ist es nicht immer so, dass man bei manchen Büchern mit den aktuellen, damit in Verbindung stehenden Ereignissen, eine Art Vergleich anstellt und diese dadurch anders liest? Jedenfalls eine sehr schöne Besprechung zu einer Lektüre, die erst durch die aktuellen Ereignisse an Brisanz gewinnt. Liebe Grüße
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Sicher vergleicht man beim Lesen gern die aktuelle Realität mit der Fiktion im Buch. Und bestimmt wäre „Unterwerfung“ ganz anders wahrgenommen worden ohne die Ereignisse um „Charlie Hebdo“. Genau deshalb habe ich versucht, diese Dinge auszublenden. Ich hoffe, mir ist das gelungen. Auch an dich liebe Grüße
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Habe Deine Besprechung gerne und mit Gewinn gelesen und sie im Halbzeitbericht zu meiner Lektüre erwähnt. http://lustauflesen.de/houellebecq-lesen-ii/
Ich hoffe, Du bist mir nicht gram, dass ich das erst nachträglich mitteile und Dich nicht vorab um Erlaubnis gebeten habe. Sorry.
lg_jochen
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Um Erlaubnis fragen? Musst du mich ganz sicher nicht. Ich finde deinen Text großartig, habe ihn gerade gelesen und bin gespannt auf deine zweite Halbzeit. Beste Grüße, Jacqueline
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Bin sehr gespannt auf das Buch und auf Houellebecq- habe bislang noch nichts von ihm gelesen, obwohl „Karte und Gebiet“ seit einer Weile schon hier steht. Bin einfach noch nicht dazu gekommen, aber dieser neue Roman der zieht mich schon stark. Sehr schöne Rezension von Dir!
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Ach, danke! Habe einige Zeit gebraucht dafür. Ich wusste irgendwie, wo ich hinwollte mit meinem Text. Es dann in die letzte Fassung zu bringen, war eine kleine Herausforderung … schön, dass er nun so gut ankommt.
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„Karte und Gebiet“ ist meiner Meinung nach sein schwächstes Buch. Wenn es Dich interessiert: http://buchrevier.com/2014/11/08/der-autor-ist-interessanter-als-sein-buch/
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Habe gerade nochmal geschaut, ist gar nicht Karte und Gebiet, es sind die Elementarteilchen. Ts ts ts – jetzt werf ich schon meine Bücher durcheinander, das geht ja gar nicht 😉 Habe Deine Rezension zu Karte und Gebiet dennoch sehr gerne gelesen.
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„Karte und Gebiet“ habe ich nie fertig bekommen und irgendwann genervt aufgehört. Vielleicht sollte ich ihm eine neue Chance geben. Aber um so gehypte Bücher mache ich irgendwie aus Prinzip meist einen Bogen.
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Zu „Karte und Gebiet“ gibt es bereits die verschiedensten Meinungen … vielleicht gibt es bessere Romane von ihm. Aber eine 2. Chance solltest du Houellebecq vielleicht geben. Vielleicht mal einen frühen Roman wie „Elementarteilchen“ oder „Ausweitung der Kampfzone“?
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Liebe Masuko,
ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Buch lesen möchte. Auf der einen Seite reizt es mich schon sehr, auf der anderen habe ich aber auch Angst, dass ich es aufgrund der aktuellen Ereignisse „falsch“ oder „anders“ lesen werde. Allerdings klingt Deine Besprechung so überzeugend, dass ich eigentlich gar nicht anders kann als zu lesen.
LG
lesesilly
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Liebe leselilly,
es könnte sein, dass dir das Buch wirklich nicht gefällt. Aber das ist wie mit Stanisic. Der eine mag ihn, der andere nicht.
Vielleicht wartest du noch mit deiner Entscheidung 🙂
Liebe Grüße, Masuko
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Vielen Dank für die Rezension! Ich bin ziemlich neugierig auf den Roman und nach diesem Blogpost umso mehr!
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