Turdeskaja Manon Lesko – so der Titel des russischen Originals – bleibt für mich unvergessen. Eine ganz besondere Erzählung, die dank dem Weidle Verlag seit 2012 endlich in Deutsch vorliegt und gerade als Taschenbuch bei btb erschienen ist. Wieder einmal fasziniert mich die Geschichte hinter der Geschichte ebenso, wie das Lesen der Novelle selbst. Bereits 1946 geschrieben, wurde sie erstmals 2006 in der Zeitschrift „Nowyj mir“ veröffentlicht. Viele Male soll Petrow auf Partys vor der Leningrader Kulturelite aus seiner „sowjetischen Manon Lescaut“ gelesen haben. Eine Veröffentlichung habe er nie gewünscht. Warum das so ist, verstehe ich erst mit dem Lesen des Nachwortes von Oleg Jurjew. Und so atmosphärisch wie sie beginnt, so nimmt sie mich gefangen bis zum letzten Satz …
… Ich lag auf einem Hängeboden, der als Pritsche diente, in unserem kanonenofenbeheizten Waggon. Links war die Wand, rechts mein Kollege Aslamasjan … unten, unter den Pritschen lebten die Krankenschwestern. Das waren einfache Mädchen …
Eines dieser Mädchen ist Vera Muschnikowa – unglaublich schön, sehr lebendig und extrem lebens- und liebeshungrig. Nicht umsonst nennt der Ich-Erzähler sie seine Manon Lescaut – ein einziger Mann genügt ihr für die Liebe nicht und flirten ist ihre Natur.
Petrow erzählt aus den Augen dieses namenlosen Ich-Erzählers (ein Arzt?) in einer nicht genau benannten Zeit an einem unbestimmten Ort. Und doch spüre ich, dass ich in den 40er Jahren irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion gelandet bin. Es fällt das Wort Militärspital und schließlich auf S. 9 weiß ich, es ist ein Spital auf Gleisen …. verschneite Landschaften ziehen an meinem inneren Auge vorbei:
Wir fuhren so lange, dass wir allmählich den Überblick über die Zeit verloren. Man fuhr uns zur neuen Front. Niemand wußte, wohin man uns schickte. Wir fuhren von Station zu Station, als ob wir uns verirrt hätten. Man hatte uns wohl vergessen. Mal fuhr der Zug, mal stand er lange. Überall schneebedeckte Felder und Wälder, zerstörte Bahnhöfe. Oft hörte ich etwas explodieren, manchmal in der Ferne, manchmal fast direkt neben uns. Die Zeit war irgendwie vom Weg abgekommen …
Obwohl ich also weiß, dass der Krieg gegenwärtig ist, spüre ich davon kaum etwas in dieser zarten Novelle. Das liegt ganz besonders an der unbeschwerten und so ganz und gar russischen Erzählweise Petrows. Mit dem Mädchen Vera hat er eine für mich unvergessliche Figur geschaffen, die durch ihre fröhliche und ungezwungene Art ein Leuchten in jeden Moment des Geschehens bringt. Ein bullernder Kanonenoffen könnte heller kaum strahlen. Und wenn der Erzähler ihr sein Verotschka und Ich bin wahnsinnig vor Liebe zu Ihnen ins Ohr flüstert, dann jagen kleine Schauer wohligen Glücks über meine Schultern. Eine Liebesgeschichte? Ja – und ich ahne es, es ist eine tragische Liebesgeschichte.
Doch erzählt Petrow viel mehr. Und ganz bewußt hat er den Stil alter russischer Dichter wie Nikolai Leskow oder Michail Kusmin (dem die Novelle gewidmet ist) gewählt. Manches steht zwischen den Zeilen oder ist in Anspielungen versteckt, die ein heutiger Leser kaum erkennen kann. Doch dank der wundervollen Kommentare von Olga Martynova und dem Nachwort von Oleg Jurjew erschließt sich mir der gesamte Kosmos dieses wundervollen Meisterwerks. Petrow erzählt von Menschen jenseits jeden sozialistischen Heldentums. Seine bewußt gewählten antisowjetischen Helden entziehen sich jeglicher Vorbildwirkung für die offizielle sowjetische Kulturpolitik.
Den Ort Turdej hat Petrow übrigens ebenfalls bewusst gewählt, es gibt ihn wirklich! Turdej ist eine Eisenbahnstation im Tula-Gebiet. Eine Vielzahl russischer Dichter des 19. Jahrhunderts war hier beheimatet. Oleg Jurjew nennt so große Namen wie Lew Tolstoi, Ivan Turgenjew und Nikolai Leskow. Ein Schatz von einem Buch, den es zu entdecken lohnt. Schon jetzt weiß ich, dass ich es nie weggeben und immer wieder lesen werde.
Aufmerksam geworden auf das Buch bin ich dank der wunderschönen Rezension der Klappentexterin
Wsewolod Petrow. Die Manon Lescaut von Turdej. Aus dem Russischen von Daniel Jurjew. Weidle Verlag Bonn 2012. 125 S., 16,90 € / auch als Taschenbuch beim Verlag btb 08.12.2014. 129 S., 8,99 €
Danke für diese schöne Rezenzion. Hat mein Interesse an dem Buch geweckt.
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Sehr gern! Ein Roman, den es wirklich zu entdecken lohnt.
Einen schönen Sonntag, Masuko
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Liebe Masuko,
ich war damals schon sehr neugierig auf das Buch, als ich die Rezension bei der Klappentexterin las. Nun bin ich mir sicher, dass ich es unbedingt lesen muss. Vielen Dank für Deinen Beitrag.
LG
lesesilly
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