Vor ein paar Tagen stand im Buchladen überraschend Steven Uhly vor mir und ich hatte die wundervolle Chance, mit ihm über seinen neuen Roman zu plaudern sowie mir das Buch signieren zu lassen. Drei seiner Romane wurden bisher im Secession Verlag Berlin Zürich veröffentlicht. „Königreich der Dämmerung“ war einer meiner Favoriten für die Longlist des deutschen Buchpreises 2014 –
Irgendeine Frage brennt mir immer auf der Seele, nachdem ich eine aufregende Geschichte gelesen habe. Auch die wenigen sehr starken Hauptfiguren bleiben im Kopf. Ana Stirnweiss, Lisa und Marta Kramer, Shimon Sarfati – ihr Schicksal lässt mich für lange Zeit nicht unberührt. Wieviel Persönliches wohl in dem Roman stecken mag? Die für mich erstaunlichste Antwort von Steven Uhly: die Geschichte ist von keinem Familienschicksal inspiriert. Vieles ist frei erfunden, basierend auf einer intensiven Recherchearbeit, ganz besonders da, wo es um Displaced Persons (DP= Menschen ohne Heimat, ein im 2. Weltkrieg durch die Alliierten geprägter Begriff) und jüdische Auswanderer nach Palästina/Israel geht.
Vorerst aber befinde ich mich am Anfang der Story im regnerischen Herbst ’44 und lasse mich auf den besonderen Erzählton Uhlys ein. Sofort explodieren Bilder in meinem Kopf, wenn Sturmbannführer Teitz einem jungen Polen folgt, der ihn zu einem Versteck jüdischer Einwohner führen soll. Teitz wird von einer jungen Frau aus dem polnischen Widerstand erschossen. Die Folgen, die für die Dorfbewohner aus diesem Mord entstehen, sind dramatisch. Uhly beschreibt diese Szenen eindringlich und absolut reduziert. Kalte Schauer durchlaufen mich.
Im Fokus des Romans steht aber ganz besonders die Zeit des Jahres 1945 und in meinem Kopf klappt eine riesige Landkarte auf. Gemeinsam mit Millionen ziehe ich heimat- und obdachlos durch dieses gepeinigte Kriegs- und Nachkriegseuropa. Von Russland und Polen über Ostpreußen nach Pöppendorf, Lübeck, Berlin und München. Weiter über Südeuropa bis nach Israel, nach Haifa, Tel Aviv und Jaffa. Der Winter 1945 muss grausam kalt gewesen sein.
Vertriebene und Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Gebieten, entlassene Kriegsgefangene, aus den Lagern befreite Häftlinge – gemeinsam mit ihnen erlebe ich Kälte, Hunger und die Ohnmacht der Hoffnungslosigkeit. Friedensgefühle stellen sich schwer ein, wenn es an allem fehlt. An Wärme, einem Obdach, einem Stück Brot. Jüdisch zu sein, ist jetzt „hilfreich“ – so findet man wenigstens Aufnahme in einem der DP-Lager.
Uhly findet für diese Situation einen Ton, der fast wie eine Ode klingt. Eine Ode der Heimatlosigkeit. „Es gab so viele von uns. Es kamen immer mehr Menschen aus dem Osten. Niemand gab uns Essen. Niemand wollte uns aufnehmen. Die Engländer wussten nicht, was sie mit uns anstellen sollten.“
Und doch gab es einen Plan. Ziel der Alliierten war es, die Millionen von Menschen in den DP-Lagern zu sammeln und in westlichen Ländern (u.a. Großbritannien, Belgien, Australien) anzusiedeln. Viele Juden wollten nach Palästina und dort ein neues Leben beginnen. Eindrucksvoll beschreibt Uhly die Transporte und Schiffsreisen nach Palästina bzw. in den 1948 gegründeten und von den arabischen Nachbarn angefeindeten Staat Israel.
Am 15.Mai 1948 kommt ein Schiff mit 250 Personen an Bord im Hafen von Tel Aviv an. Bewacht von Soldaten. Wieder Uniformen! Und erneut explodieren Bilder in meinem Kopf, sehe ich, wie die ersten Menschen unsicher und mit vorsichtigen Schritten über das Fallreep herunter kommen. „Steil hinab ging es nach Israel, … legale Ankunft in diesem Land, das erst einen Tag alt war und schon waren alle Nachbarn aufgestanden, um es zu töten, um alle ins Meer zu stoßen, aus dem sie gekommen waren, um die neue Heimat sofort zu zerstören.“
Noch bin ich auf der Suche, dieses Buch treffend zu beschreiben, da stoße ich auf eine Rezension vom Deutschlandradio Kultur. Carsten Hueck drückt mit Worten aus, was ich fühle und so schwer beschreiben kann: „Actionreich wie ein Blockbuster, poetisch wie ein biblisches Klagelied“.
Ja, es ist die extreme Spannung und es ist Uhlys virtuoser Umgang mit Sprache. Wie macht er das nur? Wenn aus dem Schatten der Millionen die Schicksale sehr weniger Hauptfiguren leuchten und meine Seele ganz tief berühren. Wenn selbst das Schicksal des ehemaligen Obersturmbannführers Josef Ranzner mich nicht ganz kalt lässt. Doch ganz besonders sind es Ana, Lisa, Marta, Shimon – ganz einfache Menschen mit Ängsten, Hoffnungen und auch mit Fehlern – die mein Herz erobern, mit denen ich leide und liebe. Die mich bereits jetzt so stark vereinnamen, dass ich den Roman irgendwann ein zweites Mal lesen werde.
Steven Uhly, Königreich der Dämmerung. Secession Verlag Berlin Zürich. 2014. 660 Seiten. 29,95 €
Liebe masuko,
jetzt wo ich meine drei Herbst-Must-Haves – Köhler, Haratischwili, Bart – ‚abgearbeitet‘ habe, steht Herr Uhly ganz oben auf der Liste der Saisonlektüren. Seine bisherigen Bücher haben mich nicht sonderlich gereizt, aber um dieses hier komme ich wohl nicht herum. Das Thema interessiert mich sehr, und was du über seine Ausgestaltung schreibst, lässt keinen Zweifel daran, dass mir der Roman gefallen wird. Sollte der Autor demnächst mal in Frankfurt lesen (außer zur Buchmesse…), lasse ich mir die Gelegenheit mit Sicherheit nicht entgehen und greife zu!
Merci jedenfalls für den schönen Leseeindruck!
Herzlich,
caterina
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Liebe Caterina,
es stimmt. Obwohl es in diesem Herbst wirklich viele großartige Romane gibt – an Steven Uhlys „Königreich der Dämmerung“ kommt man nicht vorbei. Ein ganz besonderer Roman. Er unterscheidet sich stark von seinen früheren und es ist schön, dass du ihm diese Chance gibst.
Ich hoffe auch sehr auf eine Lesereise für noch mehr persönliche Eindrücke.
Schöne Grüße, Masuko
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Liebe Masuko,
vor Kurzem habe ich „Glückskind“ von Steven Uhly gelesen und war sehr angetan. Deine Rezension von seinem neuem Buch hat mich überzeugt, auch dieses zu lesen. Du hast wunderbar das Thema beschrieben, vielen Dank dafür!
LG
lesesilly
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Liebe Leselilly,
ja dieses Buch lohnt sich. Uhly geht richtig tief rein in die Thematik und erfindet unvergessliche Charaktere. Es wird dir bestimmt gefallen.
Schöne Grüße,
Masuko
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Liebe masuko,
du hast mir seinerzeit das Buch in die Hände gespült und mich schon nach den ersten Seiten überzeugt. Doch dann kamen andere dünnere Neuheiten dazwischen und ich musste mich letztlich zwischen Nino Haritischwili und Steven Uhly entscheiden (weil zwei umfangreiche Werke auf einmal schaffe ich Vielleserin trotz trainierter Augen doch nicht). Nino habe ich den Vortritt gelassen, aber dieses hier werde ich auf jeden Fall weiterlesen – nach deiner wunderbaren Rezension erst recht.
Liebe Grüße
Klappentexterin
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Liebe Klappentexterin, ja – beides sind recht dicke Bücher. Doch das Abtauchen in solche Geschichten ist ja genau das, was unsere hungrigen Leserherzen immer und wieder verlangen. Nimm dir irgendwann die Zeit und du wirst es genießen,
liebe Grüße, Masuko
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Liebe Masuko,
wow, was für eine Geschichte. Hier konnte ich wirklich abtauchen und mich verlieren. Die Figuren sind absolut identisch beschrieben und man fiebert mit ihnen. Auch versorgt uns Uhly mit vielen Fakten, die mir bisher nicht bekannt waren. Ein einmaliges Leseerlebnis!
Lg
lesesilly
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Ja, das ist es: einmalig und voll mit spannenden Geschichten. Vieles habe ich auch erst durch Uhly erfahren.
Beste Grüsse, Masuko
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